Heldenzorn: Roman (German Edition)
vertrauenswürdigste Quelle. Er trank Stutenmilch, als wäre sie Wasser, und er wusste stets, wo die dicksten Traumbeeren wuchsen, ganz gleich, wo die Schwarzen Pfeile auch gerade ihr Lager aufschlugen. Noch dazu war es eine recht weite Reise, drei Tage jenseits des Gebiets, das ihre Sippe für gewöhnlich durchwanderte. Und das alles wegen eines Mädchens von den Krallendaumen, dem Itomni angeblich beim Taubenfangen begegnet war und das erzählt hatte, einen Drachen unweit einer Festung der Harten Menschen gesehen zu haben.
Letzten Endes war Pukemasu doch aufgebrochen, gerade weil sie so alt war. Wenn die Geschichte über den Drachen denn tatsächlich der Wahrheit entsprach, war das womöglich ihre allerletzte Gelegenheit, eine der Kreaturen zu sehen, die über die Welt geherrscht hatten, als selbst die Ewige Wanderin noch jung gewesen war.
Und nun hatte sie immerhin die Festung gefunden, doch von einem Drachen war nicht einmal eine Schwanzspitze zu sehen. Ihre Stute schnaubte leise, denn sie war leider in allen Belangen ein sehr viel ängstlicheres Tier als ihr Vorgänger, den sie vor zehn – oder waren es schon zwölf? – Sommern hatte ersetzen müssen. Doch wenn einen das Leben als Schamanin eines lehrte, dann war es die nötige Demut, sich mit all den Dingen abzufinden, die man nicht ändern konnte. Den Wankelmut der Geister etwa, oder dass der Herbst nun einmal meist kälter war als der Frühling. Oder den Umstand, dass das Pferd, das man sich aus der Herde ausgesucht hatte, im Grunde seines Herzens ein Feigling war.
»Wovor fürchtest du dich?«, redete sie beruhigend auf das Tier ein. »Das sind nur Steine und Holz und ein paar Menschen, die sich gerne von der Sonne in einem Panzer aus Metall braten lassen.«
Sie richtete sich im Sattel auf und schirmte ihre Augen mit der Hand ab, um Einzelheiten der Festung ausmachen zu können. Ihre Augen waren nicht mehr die klarsten, weshalb sie sich mehrfach darüber wischte, um ganz sicherzugehen, dass das, was sie sah, keine bloße Einbildung war. Doch, es stimmte. »Ich habe dich angelogen«, murmelte sie ihrem Pferd zu. Von den Gestalten, die hinter der Palisade entlanggingen, trugen nur die wenigsten die schweren Metallrüstungen der Harten Menschen. Nicht dass sie dafür die anständige Kleidung eines Menschen anhatten, der in einem Zelt geboren worden war, nein. Aber es waren weiche, fließende Stoffe.
Pukemasu spielte mit dem Gedanken, einen mit einem blauen Band umwickelten Pfeil in Richtung der Festung abzuschießen, aber sie verwarf den Einfall rasch wieder. Zum einen hätten die Harten Menschen gewiss nicht gewusst, wie die richtige Erwiderung ausgesehen hätte. Zum anderen plagte sie ihre linke Schulter in den letzten Monden mit einem beharrlichen Zwicken, das bestimmt nicht besser werden würde, wenn sie jetzt einen Bogen spannte.
Also atmete sie tief durch, streute ein wenig grünen Lehm aus einem Säckchen an ihrem Gürtel in den Wind, um die Geister der Friedfertigkeit um ihren Beistand zu bitten, und trabte auf die Festung zu. Eigentlich war es unter allen Sippen eine anerkannte Gewissheit, dass die Harten Menschen den Steppenbewohnern nicht ihre Tore öffneten. Sie konnte sich jedoch nicht vorstellen, von den Menschen in der Festung als Bedrohung wahrgenommen zu werden. Sie war eine alte Vettel mit Haar grau wie ein Winterhimmel, und ihre faltigen Glieder waren dürr wie Reisig. Was konnte ihr im schlimmsten Fall schon zustoßen? Nun, im schlimmsten Fall schossen ihr die Harten Menschen einen ihrer dicken kurzen Pfeile durch den Kopf, und das wäre das Ende ihrer Geschichte. Ihre Sippen und ihre Ahnen gleichermaßen würden noch lange halb betreten, halb belustigt von der wahnsinnigen Greisin Pukemasu erzählen, die ausgezogen war, einen Drachen zu sehen, und dafür mit einem Pfeil im Schädel belohnt worden war. Es gab grausamere Schicksale.
Ihre leisen Befürchtungen erwiesen sich als überflüssig. Das Tor zur Festung stand offen! Sein Holz war heller und damit eindeutig jünger als das des Zauns, und vor dem Zaun selbst gab es einige runde Stellen im Gras, wo es frischer und saftiger wuchs – ganz so, wie es nach einem Brand aus der Asche spross. Doch das waren der Wunder noch lange nicht genug – aus dem Tor galoppierte ein stattlicher Schimmel, gefolgt von einem kleinwüchsigen, zeternden Mann mit haarigen Füßen. Als er Pukemasu bemerkte, ließ er das Pferd laufen, blieb abrupt stehen und rief in der kehligen Sprache der Harten
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