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Heldenzorn: Roman (German Edition)

Heldenzorn: Roman (German Edition)

Titel: Heldenzorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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Verstoßenen, und sie hat alles, um einem die Tränen in die Augen zu treiben.« Er räusperte sich. »Ein Knabe war einmal sehr verliebt. Es war seine erste Liebe, und du weißt sicher, wie das für Knaben ist. Sie werden unausstehlich und glauben, sie müssten sterben, wenn sich ihre Sehnsucht nicht erfüllt, weil niemand sonst vor ihnen so sehr geliebt hat wie sie. Sie fangen an, Gedichte zu schreiben, in denen sie viel zu viele Worte über Haare, Lippen und Augen verlieren. In unserem Fall hatte die Angebetete Haar wie feine Luftwurzeln, auf denen der Morgentau glitzert, Rosenblätter als Lippen und Augen wie Kornblumen.« Warnend hob Rukabo den Finger. »Und bevor hier einer zu flachsen anfängt: Unser Knabe war bei der Wahl seiner Vergleiche stark befangen, weil er in eine Familie von Gärtnern hineingeboren wurde und tagein, tagaus mit schönen Gewächsen zu tun hatte. Und das waren nicht irgendwelche Gärtner. Es waren die Gärtner, denen seit Generationen die Ehre zuteilwurde, den Lustgarten des Dominex hier in Kalvakorum zu hegen und zu pflegen. Die Leute, die die kostbaren Früchte reifen lassen, an denen sich unser Herrscher labt und deren Saft es ihm erlaubt, der Zeit zu trotzen. Sie waren freie Leute, wohlgemerkt, keine Sklaven. Stolz und blind ehrwürdigen Traditionen verhaftet. Wie beispielsweise der Tradition, ihre Haine nur mit dem Wasser aus jenem Turm zu bewässern, der diesem Element geweiht ist. Das reinste, klarste Wasser, das die Welt zu bieten hat.«
    »Wolltest du mir nicht eine Geschichte über einen verliebten Knaben erzählen?«, fragte Fulmar. »Ich habe nämlich eher die Befürchtung, du willst mich für die Gartenbaukunst gewinnen.«
    »Fällst du allen so ins Wort, von denen du deine Geschichten sammelst, du lausiger Chronist?«, ereiferte sich Rukabo.
    »Nur denen, die zu sehr abschweifen«, verriet ihm Fulmar.
    »Gut. Dann also gleich zurück zum verliebten Knaben, wenn du unbedingt eine Geschichte ohne jedes Fleisch auf den Knochen hören willst.« Rukabo schüttelte beleidigt den Kopf wie ein Gaukler, der seinen atemberaubendsten Trick nicht vorführen durfte. »Es gelang ihm tatsächlich, Gehör bei seiner Schönen zu finden, und damit hatte er den meisten anderen verliebten Knaben schon etwas voraus. Zu seinem Unglück genügten ihr seine heißen Schwüre jedoch nicht, sondern sie verlangte einen greifbaren Beweis für seine Behauptung, er würde alles für sie tun. Der Knabe richtete sich im Geiste bereits auf eine gefahrvolle Reise in ferne Lande ein, um ihr eine Strähne aus dem Schweif eines Einhorns oder einen Elfenspiegel zu besorgen, in dem sie für immer jung und schön war. Es stellte sich allerdings heraus, dass der Beweis, den sie von ihm forderte, gewissermaßen vor seiner Haustür lag. Sie wollte die Blüte einer Jungferngunst. Das hört sich nicht nach viel an, aber man darf da ein paar Dinge nicht vergessen.« Rukabo zählte die Punkte an seinen Fingern ab. »Erstens ist die Jungferngunst ein Schmarotzer und schlingt ihre Ranken nur um die höchsten Bäume. Zweitens erblüht sie nur einmal alle hundert Jahre und dann ausschließlich aus einer einzigen Knospe an der Ranke, die der Sonne am nächsten ist. Und drittens ist sie ganz von Stacheln überzogen, länger als ein Arm, aber dabei so fein, dass man sie leicht übersieht, und so biegsam, dass man meinen könnte, sie bewegten sich auch bei Windstille von allein. Doch der Knabe hatte auch einige Vorteile auf seiner Seite.« Rukabo klappte seine ausgestreckten Finger einen nach dem anderen wieder ein. »Erstens gab es im Lustgarten des Dominex eine Jungferngunst, die sich um eine Zeder rankte. Zweitens blühte sie gerade. Und drittens war er trotz seines stämmigen Wuchses ein derart geschickter Kletterer, dass er die heimtückischen Stacheln nicht zu fürchten brauchte. Habe ich erwähnt, dass sie giftig sind? Dass das Blut nicht mehr gerinnt, wo sie einem in die Haut gedrungen sind?« Er faltete die Hände über dem Bauch. »Aber du wolltest die kurze Variante hören, dann sollst du auch die kurze Variante kriegen. Unser Knabe schlich sich noch in derselben Nacht, in der ihm seine Liebste ihre Forderung genannt hatte, in den Garten und erklomm die Zeder, von der sich die Jungferngunst nähren ließ. Ganz bis nach oben zur Blüte, deren Blätter im Dunkeln in einem zarten Rot leuchteten wie von sinnlicher Erregung errötete Wangen. Ohne dass er auch nur einen einzigen Stich spürte. Als er die Blüte pflückte,

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