Heldin wider Willen
einen Berg vor dem Himmel darstellte, mit dem kleinen Diamanten, der am Gipfel glitzerte, weckte in ihr weder Stolz noch Schuldgefühle. Sie senkte den Kopf, damit ihr der Gastgeber das blaue und graue Band um den Hals legen konnte; die Medaille selbst war
leichter, als sie erwartet hatte.
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Danach gab es nichts weiter zu tun, als in der Reihe zu stehen und denen, die an ihr vorbeidefilierten, die rituellen Grüße und Dankesworte auszurichten: sehr erfreut, wie freundlich, danke sehr, wie reizend, wie freundlich, danke vielmals, sehr
freundlich, sehr erfreut… bis die Letzte in der Schlange, eine weißhaarige alte Dame, auf irgendeine komplizierte Art mit Esmays Großmutter verwandt, von ihrem Vater zu ihr
weitergegangen war und dann zum Gastgeber. Esmay fand ein paar Minuten, um an dem scharfen Obstsaft zu nippen, und dann führte der Vater sie schon eilig zum Wagen zurück, um nach Hause zu fahren.
Sie wäre gern länger geblieben; sie hatte immer noch Hunger, und einige der Gesichter, die verschwommen an ihr vorbei-geströmt waren, gehörten zu Freunden von einst. Gern hätte sie Gelegenheit gefunden, in der Stadt einzukaufen, sich ein paar neue Kleider zuzulegen. In dieser Hinsicht hatte sie allerdings immer noch nicht mehr zu sagen als zu ihrer Zeit als Schul-mädchen. Der General entschied, dass es Zeit war zu gehen, und so gingen sie. Sie bemühte sich, keinen Widerwillen zu hegen.
»Papa Stefan«, sagte der Vater zu ihr. »Er fühlte sich nicht gut genug, um zu kommen, hatte allerdings einen Fa-milienempfang geplant.«
Sie konnte sich Papa Stefan nicht anders als in guter Verfassung vorstellen; schon in ihrer Kindheit hatte er weiße Haare gehabt, war jedoch eine kraftvolle Erscheinung gewesen, war zusammen mit seinen Söhnen und Enkeln ausgeritten und hatte an ihrer Seite gearbeitet. Also hatte sich das verändert. Sie hatte immer gewusst, dass es einmal geschehen würde, aber – es war schwierig, wieder dieselbe Schwerkraft zu spüren, dieselbe Luft zu atmen, die alten Düfte wieder zu erkennen und dabei an 102
Veränderungen zu denken. Die Häuser, an denen sie vorbei-fuhren, die soliden steinernen Blocks, die Geschäfte und Banken und Büros beherbergten, waren noch dieselben, die sie von früher kannte.
Außerhalb der Stadt stieg die Wiesenlandschaft zu den
Bergen auf, wie sie es schon immer getan hatte. Esmay blickte zum Fenster hinaus und entspannte sich beim vertrauten
Anblick. Dort ragten die Schwarzen Zähne auf, zwischen deren dunklen Spitzen die legendäre Höhle des Großen Wyrms lag.
Als Kind hatte sie geglaubt, die Drachengeschichten spielten auf dem eigenen Planeten; sie hatte geglaubt, die Höhle wäre voll gestopft mit dem Drachenhort. Sie war bitter enttäuscht, als sie erfuhr, dass Großer Wyrm die Kodebezeichnung für die
Rebellenallianz war, die – der Legende zufolge – den
ursprünglichen Eigentümer von Altiplano und seine Familie massakriert hatte. Ein Schulausflug zur »Höhle« hatte diese als völlig normalen Bunker erkennbar gemacht, in die Seitenwand einer Schlucht hineingebaut.
Südlich der Schwarzen Zähne waren die übrigen Gipfel des Romilo-Steilhangs zu sehen, die nur im Vergleich zu den
Zähnen bescheiden wirkten. Esmay blickte mit zusammengekniffenen Augen über die Kilometer voll schimmernden
Lichts hinweg und suchte nach der Lücke in dieser Kette, dem Wiesental mit der Estancia ihrer Familie. Dort – die Bäume zeigten es, die langen Reihen geordneter Anpflanzungen entlang der Straße und der Einfahrten.
Der Wagen wurde langsamer und bog von der Straße ab. Ihr Vater beugte sich zu ihr herüber. »Ich weiß nicht, ob du noch praktizierst«, sagte er. »Aber es ist nun mal Brauch, wenn 103
jemand von einer langen Reise zurückkehrt… Und ich zünde sowieso eine Kerze an.«
Esmay spürte, wie ihr Hitze in die Wangen stieg. Schlimm genug, dass sie es vergessen hatte, aber dass ihr Vater auch vermutete, sie habe es vergessen, war noch schlimmer. »Ich mache mit«, sagte sie. Sie stieg aus, war ganz steif und fühlte sich sehr unbeholfen. Sie hatte nicht mehr an diese Zeremonien gedacht, seit sie von zu Hause fortgegangen war; und sie wusste nicht, ob ihr noch die richtigen Worte einfielen.
Der in die Tormauer der Estancia hineingebaute Schrein war mit frischen Blumenkränzen geschmückt, die man unterhalb der Nische ausgebreitet hatte. Esmay nahm den schwachen süßen Duft der Kränze wahr sowie das strengere Aroma der großen Bäume, die
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