Heldin wider Willen
die Taktik kleiner Einheiten studiert.
»Manchmal lässt er sich wirklich etwas mitreißen«, fuhr ihr Vater fort. »Er hat mir jedoch ziemlich oft die Haut gerettet.« Er blickte zur oberen Halle hinauf, wo eine Gruppe von Männern in förmlicher Kleidung einen Halbkreis bildete. »Ah … da sind wir! Die Ratgeber der Langen Tafel… Hattest du im Auto Zeit, um …«
Das hatte sie nicht, aber dazu waren die Ohrhörer schließlich da. Den meisten dieser Männer war sie schon begegnet, so, wie die Kinder eines Haushalts eben vornehme Besucher kennen lernten. Sie hätte sich nicht daran erinnert, dass Cockerall Mordanz Ratgeber für Meeresressourcen war, aber sie wusste sehr wohl noch, dass er während eines Polospiels einmal vom Pferd gefallen und Onkel Berthols Pony sauber über ihn
hinweggesprungen war. Der gegenwärtige Gastgeber der Langen Tafel, Ardry Castendas Garland, war einmal ausgerutscht, als er den Speiseraum der Suizas betrat, und hatte dabei den kleinen Tisch mit den heißen Handtüchern umgeworfen;
Esmays Urgroßmutter hatte sie dafür gescholten, dass sie gaffte.
»Esmay… Lieutenant Suiza!«, sagte der Gastgeber jetzt, fing sich noch rechtzeitig und kehrte zu der Förmlichkeit zurück, die für die Zeremonie angemessen war. »Es ist uns eine Ehre …« Er 99
wusste nicht weiter, und Esmay gestattete sich ein innerliches Lächeln. Altiplano fehlte es an einer passenden Ehrenbezeich-nung für jemanden wie sie: eine Frau, Militäroffizier, Heldin.
Sie empfand widerstreitende Impulse, ihm zu helfen und ihn in seinem Saft schmoren zu lassen: Schließlich waren es diese Leute, die aus ihr einen Helden machen wollten. Sollten sie sich dann auch etwas ausdenken. »Meine Liebe«, sagte er
schließlich. »Verzeihen Sie, aber ich muss immer wieder daran zurückdenken, was Sie für ein süßes Kind waren. Es fällt mir schwer zu begreifen, was aus Ihnen geworden ist.«
Esmay hätte ihm mit Begeisterung eine geklebt. Süßes Kind!
Sie war ein mürrischer, linkischer Teenager gewesen … nicht süß, sondern schwierig und merkwürdig. Und was sie jetzt war, sollte eigentlich recht einfach zu begreifen sein: ein
Subalternoffizier des Regulär Space Service.
»Das ist doch klar genug«, sagte ein weiterer Mann, den
Esmay nicht kannte. Der Oppositionsführer, erklärte ihr
Ohrstöpsel. Orias Leandros. Er lächelte sie an, aber das Lächeln galt eher dem Gastgeber. Er würde politischen Gewinn aus Esmay schlagen … dachte er.
»Gastgeber Garland«, sagte Esmay rasch. Sie konnte beide nicht leiden, aber sie wusste, welche Pflichten ihre Familie hatte. »Sie können auch nicht mehr über mein gegenwärtiges Dilemma erstaunt sein als ich selbst. Mein Vater hat mir erzählt, Sie planten, mir eine Auszeichnung zu verleihen … Aber Sie müssen doch erkennen, dass Sie mir zu viel Ehre erweisen.«
»Keinesfalls«, erwiderte der Gastgeber, der das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Er warf seinem Rivalen nur einen kurzen Blick zu. »Man kann schließlich erkennen, dass sich in Ihrer Familie das Erbe der militärischen Befähigung durch die 100
Generationen weitervererbt. Zweifellos werden auch Ihre Söhne
…« Er brach ab, war erneut über die auf Altiplano geltenden Annahmen und die üblichen Phrasen gestolpert. Was einem
Mann gegenüber ein schönes Kompliment gewesen wäre, das
hatte fast den Anschein des Unschicklichen, wenn man es an eine Frau adressierte.
»Es ist so lange her«, sagte Esmay, um das Thema zu
wechseln, ehe Orias Leandros irgendwas Schädliches sagen konnte. »Vielleicht möchten Sie mich den übrigen Ratgebern vorstellen?«
»Selbstverständlich.« Garland schwitzte ein wenig. Wie war er nur zum Gastgeber gewählt worden, wenn er doch nach wie vor so ungeschickt in Wort und Tat war wie eh und je? Er brachte jedoch die Vorstellung recht gut hinter sich, und Esmay gelang es, die richtigen Leute mit der jeweils richtigen Herzlichkeit anzulächeln.
Die Verleihungszeremonie vermittelte ihr ein merkwürdiges Gefühl, da Esmay eigentlich überhaupt nichts fühlte. Zu
deutlich nahm sie das leise Murmeln aus dem Ohrstöpsel wahr –
das ihr dabei half, die richtigen Zeilen abzusondern –, die Ausdrücke auf den Gesichtern ringsherum … Die Verlegenheit, die sie empfunden hatte, als sie zuerst von der Auszeichnung erfuhr, drang nicht durch die Konzentration, die nötig war, um alles richtig zu machen. Der Gestirnte Berg selbst, eine Scheibe mit der blauen und schwarzen Emaille, die
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