Heldin wider Willen
deren Reaktionen nicht natürlich waren.
Sie hatte gar nicht bemerkt, wie viel von diesen Gefühlen altersbedingt gewesen war und wie sehr sie durch die reale Veränderung verfestigt worden waren, durch das Fortgehen vom Heimatplaneten, ehe sich die erwachsene Identität stabilisieren konnte. Im Licht der Sonne von Altiplano und gehalten von Altiplanos Schwerkraft, entspannte sie sich jetzt jedoch und fühlte sich auf eine Art und Weise zu Hause, wie sie es nicht 96
mehr empfunden hatte, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Die Farben stimmten einfach in einer Weise, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan hatten; bis auf die Knochen spürte sie, dass die hiesige Schwerkraft die Richtige war, nicht jenes Standard-g.
Als sie aus dem Wagen stieg und die roten Steinstufen zum Palast hinaufging, fanden ihre Füße mühelos die richtigen Intervalle. Diese Stufen hatten die richtige Höhe und die richtige Tiefe; diese Steine fühlten sich ausreichend massiv an; dieser Eingang hieß sie willkommen; diese Luft – sie atmete erneut tief ein – roch einfach richtig und fühlte sich einfach richtig an auf dem ganzen Weg bis zum Grund ihrer Lungen.
Sie blickte sich unter den Leuten um, die jetzt ringsherum in die Halle drängten. Menschen waren Menschen, aber ihre
Gestalt schwankte je nach Genom und nach Planet, auf dem sie lebten. Hier wirkte die Knochenstruktur vertraut; das war die Gesichtsform, die Esmay schon ihr ganzes Leben kannte, mit vorstehenden Wangenknochen und ausgeprägter Stirn, langem, spitzem Kinn und tiefliegenden Augen unter dichten
Augenbrauen. Diese langen Arme und Beine, großen knochigen Hände und eckigen Gelenke – das war ihr Volk, das Aussehen ihres Volkes. Hierhin passte sie, zumindest körperlich.
»Ezzmaya! S'oort semzz zalaas!« Esmay drehte sich um; ihre Ohren hatten sich schon an den Altiplano-Dialekt adaptiert, sogar in der weniger auffälligen Form ihrer Familie, und es fiel ihr nicht schwer, den Willkommensgruß zu verstehen, den sie gerade gehört hatte. Sie erkannte den verhutzelten alten Mann vor ihr nicht sofort, der sich steif aufrecht hielt und die leuchtenden Tressen eines ehemaligen Senior-Unteroffiziers trug; der ranghöchste Adjutant ihres Vaters murmelte ihr jedoch 97
den Namen ins Ohr: Master Sergeant im Ruhestand Sebastian Coron … natürlich! Er war Teil ihres Lebens, schon seit
frühester Kindheit, so weit ihre Erinnerung überhaupt reichte, immer forsch und korrekt, aber mit einem Augenzwinkern für die älteste Tochter seines Befehlshabers.
Als sie die vertraute Sprache hörte, bog sich Esmays Zunge zu der rollenden Aussprache, ohne dass sie überhaupt
nachdenken musste. Sie dankte Coron für seine Glückwünsche und benutzte dafür die förmlichen Wendungen, die ein noch breiteres Grinsen auf sein Gesicht zauberten. »Und Ihre Familie
… Ihre Leibsöhne und Herzenstöchter? Und erinnere ich mich richtig, dass Sie inzwischen auch Enkellinge haben?«
Ehe er antworten konnte, reichte ihr Vater ihm ebenfalls die Hand. »Sie können später zu Besuch kommen«, sagte er. »Wir müssen Esmaya jetzt hinaufbringen …« Coron nickte, verneigte sich kurz und steif vor Esmay und wich zurück. Während ihr Vater sie wegführte, sagte er: »Ich hoffe, es macht dir nichts aus
– er ist so stolz auf dich, dass man denken könnte, er wäre dein Vater. Er wollte unbedingt kommen …«
»Natürlich macht es mir nichts aus.« Sie blickte die Treppe mit dem grünen Teppich hinauf. Das gefärbte Glasfenster am Treppenabsatz, wodurch sattes goldenes und blut-farbenes Licht über den Teppich strömte, hatte sie schon immer geliebt.
Palastwachen in Schwarz und Gold standen steif wie die
Stangen des Geländers und starrten ins Leere. Als Kind hatte sie sich immer gefragt, ob sie auch so steif blieben, wenn man sie kitzelte, aber sie hatte nie die Chance erhalten – oder den Wagemut aufgebracht –, das auszuprobieren. Jetzt stieg sie an ihnen vorbei die Treppe hinauf, verwirrt durch Erinnerungen und Gefühle.
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»Und er möchte die Geschichte gern direkt von dir erfahren –
wenigstens einen Teil davon …«
»Das ist fein«, sagte Esmay. Sie erzählte sie lieber dem alten Coron als den jungen Milizoffizieren mit ihren frischen
Gesichtern, die sich jetzt um sie drängten. Coron hatte ihr mehr von den Grundlagen beigebracht, als ihr Vater wahrscheinlich wusste; unter seinen wachsamen Augen hatte sie einen ganzen Sommer lang unten in Varsimla die Handbücher über
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