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Heldin wider Willen

Heldin wider Willen

Titel: Heldin wider Willen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Moon
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einen gefliesten Hof mit Teich hinausgingen … Esmay hörte das leise Plätschern der Fontäne 106
    sogar durch das Stimmengemurmel und das Scharren der Füße auf den Bodenfliesen hindurch.
    Aus Gewohnheit steuerte sie ihren alten Platz an, aber dort saß schon jemand – zweifellos irgendeine Kusine –, und ihr Vater führte sie ans obere Ende der Tafel, damit sie links neben Papa Stefan Platz nahm. Urgroßmutter saß nicht am Tisch; sie wartete darauf, Esmay anschließend in ihrem eigenen Salon zu empfangen.
    »Hier ist sie endlich«, sagte ihr Vater.
    Papa Stefan war alt geworden; er war dünner, die Haut hing lockerer über den Knochen. Die Augen blickten jedoch nach wie vor scharf, und der Mund bildete eine entschiedene Linie, selbst als er Esmay anlächelte.
    »Dein Vater hat mir erzählt, dass du dich an die angemessene Opfergabe zur Rückkehr erinnert hast«, sagte er. »Kennst du auch noch den richtigen Segen für das Essen?«
    Esmay blinzelte. Nachdem sie Altiplano erst mal verlassen gehabt hatte, hatte sie auch alle Gedanken an reines oder unreines Essen abgelegt, an Segenssprüche und Flüche, und das ebenso freudig, wie sie auf die traditionelle Unterwäsche verzichtete, die für eine tugendhafte Tochter als schicklich galt.
    Mit dieser Ehre jetzt hatte sie nicht gerechnet – die auch eine Prüfung darstellte, was alle wussten. Gewöhnlich baten nur Söhne und die Söhne von Söhnen am Abendtisch um den Segen für die Mahlzeit; Töchter und die Töchter von Töchtern
    sprachen das Frühstücksgebet, wenn das nächtliche Fasten gebrochen wurde, und zum Mittagsmahl wahrten alle
    Schweigen.
    107
    Sie blickte am Tisch entlang, um zu sehen, was auf den
    großen Tellern lag … darauf kam es an … und war noch mehr überrascht, als sie die fünf Servierteller sah. Man hatte ein komplettes Kalb zu ihren Ehren geschlachtet.
    Sie hatte noch nie davon gehört, dass eine Frau zu diesem Zeitpunkt sprach, aber sie kannte die Worte.
    »Zurück aus der Ödnis …«, begann sie, arbeitete sich durch den ganzen Text vor und stolperte jeweils nur kurz über die eingefügten Wendungen, in denen das Gespräch von einem
    männlichen Sprecher ausging, wo sie jeweils entweder in der männlichen Form von sich sprechen oder die Worte ändern
    musste. »Vom Vater zum Sohn ist es auf mich gekommen, und so gebe ich es weiter …« Nach ungefähr dem ersten Jahr auf der Vorbereitungsschule der Flotte hatte sie nicht mehr in großem Detail über die eigene Kultur nachgedacht; sie hatte bislang gar nicht bemerkt, wie einschränkend die Sprache im Grunde war.
    Anfänglich war die Flotte ein Schock für sie gewesen, weil sie einen so lockeren Umgang der Geschlechter miteinander
    voraussetzte, wobei sowohl Männer als auch Frauen mit» Sir«
    angesprochen wurden. Bei der Flotte unterschieden die
    wichtigen Worte für »Eltern« zwischen »Gen-Eltern« und
    »Lebens-Eltern«, nicht zwischen Müttern und Vätern. Auf
    Altiplano kannte man kein Wort für »Eltern«, und obwohl man hier moderne Fortpflanzungsmethoden kannte, machten nur sehr wenige Menschen jemals davon Gebrauch.
    Sie schloss den Segenswunsch ab, wobei sie immer noch über diese Unterschiede nachdachte, und Papa Stefan seufzte. Esmay warf ihm einen kurzen Blick zu; seine Augen funkelten.
    »Du hast es nicht vergessen … Du hattest schon immer ein gutes Gedächtnis, Esmaya.« Er nickte. Die Diener traten vor; 108
    die großen Teller wurden zur Anrichte gebracht, um das Fleisch zu tranchieren, und Suppenschüsseln wurden derweil auf die Tafel gestellt.
    Das Essen bei der Flotte war recht gut, aber das hier waren die Speisen ihrer Kindheit. Die dicke blaue Schüssel mit der cremigen Maissuppe, garniert mit grünen und roten … Esmays Magen knurrte über das vertraute Aroma. Der Löffel, den sie zur Hand nahm, zeigte das Familienwappen; er lag ihr im Griff, als wäre er ihr gewachsen.
    Der erste Salat folgte auf die Maissuppe, und bis dahin war das Fleisch geschnitten und auf blauen Tellern mit weißen Wirbelmustern ausgelegt. Esmay nahm drei Stück, einen Haufen der kleinen gelben Kartoffeln – eine Familienspezialität – und einen Löffel voll Karotten. Eine solche Mahlzeit lohnte die lange Wartezeit.

Ringsherum unterhielten sich die Familienmitglieder
    gedämpft; Esmay hörte nicht zu. In diesem Augenblick wollte sie einfach nur essen, diese Speisen, die zu vermissen sie sich gar nicht hatte eingestehen wollen. Lockere Brötchen, die als Wolken hätten zum Himmel

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