Heldin wider Willen
vom ersten Herbststurm fortgetragen zu werden. Über die Schottereinfahrt hinweg, die unter ihren Schuhen knirschte. Zwischen den Blumenbeeten hindurch,
deren Farben ihr in den Augen schmerzten. Über die Felder hinweg, die dahinter im Sonnenlicht lagen, wo Schatten
umhertrieben und Esmay beim Namen riefen, denen sie jedoch keine Antwort gab.
Sie kehrte zurück, als die Sonne hinter die fernen Berge sank, und war auf eine Art und Weise müde, die nichts damit zu tun hatte, wie weit sie gewandert war, egal welche Distanz; sie betrat die matt beleuchtete Eingangshalle, wo sie beim Duft des Essens und Geschirrklapperns abrupt stehen blieb.
»Dama?« Esmay wirbelte herum, aber es war nur ein Diener, der ihr ein Tablett mit einer Tasse und einem zusam-mengefalteten Brief reichte. Die Tasse Tee lehnte sie mit einem Kopfschütteln ab, aber sie nahm den Brief und ging nach oben.
Niemand folgte ihr, niemand drängte sich ihr auf. Sie legte den Brief aufs Bett und ging den Flur hinunter zum Bad.
Wie sie schon fast erwartet hatte, stammte der Brief von ihrer Urgroßmutter. Dein Vater hat mir gesagt, dass es mir jetzt freisteht, mit dir zu reden. Komm und besuche mich. Sie legte den Brief ins Regal über der Kleiderstange und dachte darüber nach. Stets war sie davon ausgegangen, dass ihr Vater seiner Großmutter gehorchte, wie Esmay selbst ihrem Großvater
gehorchte; obwohl Männern und Frauen unterschiedliche Rollen zufielen, übten die Alten stets die Herrschaft aus. So hatte Esmay jedenfalls gedacht und sich vorgestellt, wie sich die 161
Kette der Autorität von Glied zu Glied fortpflanzte, durch alle Generationen vom Ältesten bis zum Jüngsten.
Hatte die Urgroßmutter tatsächlich die Wahrheit gekannt und ihr nicht erzählt? Wie hatte ihr Vater solche Macht gewonnen?
Sie legte sich aufs Bett, und während die Stunden dahin—
gingen, fand sie nicht die Kraft, sich zu bewegen, aufzustehen und zu baden oder sich umzuziehen oder sich auch nur von dem Quadrat des Himmels abzuwenden, das sie durchs Fenster sah, während es allmählich dunkler wurde, von blau zu grau und schließlich zur sternübersäten Mitternacht. Sie konnte nicht mehr tun als blinzeln, wenn die Augen brannten, während sie durchs Fenster starrte; sie konnte nicht mehr tun als atmen.
Im ersten Licht der Morgendämmerung rappelte sie sich auf und fühlte sich steif und elend. Wie viele Morgen war sie schon steif und elend aufgewacht und hatte gehofft, auf dem Weg ins Bad niemandem zu begegnen, und auch nicht auf dem Weg
nach draußen … Und hier fand sie sich wieder, angeblich ein Held – bei der Vorstellung hätte sie gelacht, wäre ihr das noch möglich gewesen –, wieder mal allein im Obergeschoss des väterlichen Hauses, wieder mal wach und elend nach einer schlaflosen Nacht.
In dem Ton, den sie von Admiral Serrano erwartet hätte, wies sie sich an, sich zusammenzureißen. Ein tiefer Atemzug in der Morgenluft, durchsetzt vom süßen Duft der in der Nacht
blühenden Blumen an der Hauswand. Sie überwand sich, ins Bad zu gehen, duschte, putzte sich die Zähne. In ihrem Zimmer zog sie Reitkleidung an; als sie die Treppe hinunterging, hörte sie das vertraute Klappern aus der Küche, wo die Köche schon an der Arbeit waren. Falls sie dort den Kopf hineinsteckte, bewegt von der Hoffnung, einen Happen Frischgebackenes zu 162
erhaschen, wollten sie bestimmt mit ihr reden. Sie ging weiter zur Vorratskammer, vorbei an der Küche. Falls sich diese Konvention nicht geändert hatte, würde sie dort rechts einen Steinkrug mit Brot für unterwegs finden. Jeder konnte sich daraus eine Hand voll nehmen, wenn er zu frühen Pflichten hinausging.
Im Stall ging es geschäftig zu, wie immer bei Tageslicht …
Die Stallknechte und ihre Helfer eilten von Box zu Box, und Eimer klapperten. Esmay suchte das Stallbüro auf und fand dort ihren Namen ganz oben auf der Liste der Reiter des Tages. Ihr Vater hatte dafür gesorgt, wahrscheinlich schon gestern Abend, und sie empfand keinerlei Dankbarkeit dafür. Jemand mit einer anderen Handschrift hatte den Namen eines Pferdes
hinzugesetzt: Sam.
»Dama?« Das war einer der Stallknechte. »Wenn Sie so weit sind, Dama.«
»Ich bin so weit«, sagte Esmay mit trockener Kehle. Sie hätte auch eine Flasche Wasser einstecken sollen, wollte dafür aber jetzt nicht mehr umkehren. Der Stallknecht ging ihr durch den Mittelgang dieser Scheune und der angrenzenden voraus und führte sie schließlich hinaus auf den kleinen
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