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Heldin wider Willen

Heldin wider Willen

Titel: Heldin wider Willen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Moon
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zornig auf mich«, stellte ihre Urgroßmutter fest, ohne von ihrer Stickerei aufzublicken. Sie benötigte dafür eine dicke linse und eine Speziallampe, aber Luci zufolge arbeitete sie täglich daran.
    »Ich bin zornig«, bestätigte Esmay. »Vor allem auf ihn, denke ich.« Womit sie den Vater meinte, was ihre Urgroßmutter
    sicherlich wusste.
    »Ich bin nach wie vor zornig auf ihn«, sagte die Urgroß-
    mutter. »Ich bin jedoch zu alt, um viel Energie in diesen Zorn zu stecken. Zorn ist sehr ermüdend, also rationiere ich ihn.
    Vielleicht ein scharfes Wort pro Tag.«
    Esmay hatte den Verdacht, dass sie sich auf ihre Kosten
    humorvoll gab, aber das Gesicht der alten Frau wies eine weiche Verletzlichkeit auf, die ihr dort noch nie aufgefallen war.
    »Ich sage dir, dass ich falsch gehandelt habe, Esmaya. Man hat mich so erzogen, aber es war trotzdem falsch. Falsch, es dir nicht zu sagen, und falsch, dich so im Stich zu lassen, wie ich es getan habe.«
    »Ich verzeihe dir«, sagte Esmay rasch. Die alte Frau sah sie an.
    »Tu das nicht. Von allen Menschen solltest du mich nicht anlügen. Lügen, die man auf Lügen häuft, ergeben niemals Wahrheit. Du verzeihst mir nicht – du kannst mir so schnell nicht verzeihen.«
    »Ich … hasse dich nicht.«
    »Du solltest auch deinen Vater nicht hassen. Sei zornig auf ihn, ja; er hat dich verletzt und belogen, und Zorn ist eine angemessene Reaktion. Du brauchst ihm nicht allzu schnell zu 169
    vergeben, nicht eher als mir. Aber hasse ihn auch nicht, denn es entspräche nicht deinem Wesen und würde dich zerstören.«
    »Ich gehe fort, so schnell ich kann«, sagte Esmay. »Und ich werde nie zurückkehren.«
    »Ich weiß.« Wieder dieses Gefühl von Verletzlichkeit, aber ohne die Absicht, sie umzustimmen. Das Kinn der Urgroßmutter nahm mehr Festigkeit an. »Luci hat mir von der Herde erzählt.
    Du hast Recht, und ich werde mich für Luci einsetzen, wenn die Zeit kommt.«
    »Danke«, sagte Esmay. Das war alles, was sie sagen konnte; sie küsste die alte Frau und ging.
     
    Die Tage krochen vorbei, dann die Wochen. Esmay zählte sie ab; sie wollte keinen Skandal provozieren, indem sie für den Rest des Urlaubs in die Stadt zog, aber sie behielt den Kalender im Auge. Ihr Entschluss hatte sich verfestigt; sie würde gehen und nie zurückkommen. Sie würde sich jemanden suchen –
    nicht Luci, die nicht das richtige Gefühl dafür hatte –, der Hüter des Tals wurde. Nichts hier bedeutete für sie noch etwas anderes als Schmerz und Traurigkeit; schon das Essen erzeugte einen üblen Geschmack in ihrem Mund. Jeden Tag redete sie mit dem Vater über andere Dinge; sie war erstaunt, wie sie beide es schafften, jeden Hinweis auf jenen katastrophalen Nachmittag zu vermeiden. Die Stiefmutter nahm sie zum Einkaufen mit in die Stadt; Esmay gestattete es, in angemessene Kleider gesteckt zu werden.
    Dann brachen die letzten sieben Tage an … die letzten fünf Tage … die letzten vier. Eines Morgens erwachte sie mit einem Stich der Traurigkeit darüber, dass sie zwar in ihrem Tal 170
    gewesen war, es aber nicht gesehen hatte. Sie musste es noch einmal besuchen; sie musste versuchen, etwas zu retten, sich aus ihrer Kindheit irgendeine echte Erinnerung zu bewahren, die gleichzeitig eine gute Erinnerung war. Sie ritt fast jeden Tag aus, nur um Luci Gesellschaft zu leisten, also konnte sie gleich heute losreiten, falls ein Pferd frei war.
    Für die Dama war immer ein Pferd frei. Ein Wanderpferd?
    Natürlich, Dama, komplett mit Sattel und Zaum. Und wusste der Stallknecht auch, ob dieses Pferd Fußfesseln akzeptierte? Sehr gut. Sie kehrte in die Küche zurück und nahm ein Mittagessen mit. Sie fühlte sich – falls nicht glücklich, so doch positiv gestimmt; der Ruf der Flotte, dachte sie, das Wissen, dass sie in ein paar Tagen für immer in ihre neue Heimat zurückkehren würde.
     
    Das Tal öffnete sich vor ihr wie eine magische Landschaft, wie sie es als Kind erlebt hatte … wie sie noch im Augenblick des Todes daran zurückdenken würde. Die Bezeichnung »Tal« hatte es kaum verdient, auch wenn Esmay beim ersten Anblick noch so jung gewesen war, dass es ihr riesenhaft erschien. Jetzt sah sie, dass es nur eine Schüssel in einer Bergflanke war, eine Graslichtung, auf der ein kleiner Teich in einen murmelnden Strom davonsickerte, der sich weiter unten zu einem lauten, rauschenden Gewässer entwickelte.
    Zu einer Seite ragten von steinigen Simsen dunkle, geheimnisvolle Kiefernwälder auf, und ihnen

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