Heldin wider Willen
Verwirrend? Vielleicht ja, wenn es darum ging, Informationen zu organisieren und vor Gericht zusammenhängend vorzutragen, aber sie konnte die 152
Gesichter derer sehen, die sie getötet hatte, und derer, die versucht hatten, sie zu töten. Und sie würde sich stets daran erinnern.
»Zeig mir den Dienstplan des Regiments!«, verlangte sie, die Stimme fast erstickt vor Zorn. »Zeig ihn mir, und ich zeige dir den Mann.«
»Du kannst unmöglich … Nach all diesen Jahren …«
»Sebastian sagt, er hätte ihn getötet – was bedeutet, dass du weißt, wer es war. Falls ich ihn dir zeigen kann, müsste dir das den Beweis liefern, dass ich mich wirklich erinnere.« Dass du dich geirrt hast und ich Recht habe. Warum es ihr so wichtig war, das zu beweisen, dieser Frage wollte Esmay lieber nicht nachgehen. Einen General eines Irrtums zu überführen war beruflicher Selbstmord und militärische Dummheit. Aber …
»Du kannst das unmöglich tun«, wiederholte ihr Vater,
diesmal jedoch kraftlos. Ohne ein weiteres Wort ging er voraus zu seinem Arbeitszimmer; Esmay folgte ihm und kämpfte dabei den Impuls nieder, ihn von hinten zu Boden zu schlagen. Er trat vors Computerterminal und drückte auf die Tasten. Esmay fiel auf, dass seine Finger zitterten; sie empfand dabei eine gelassene Befriedigung. Schließlich wich er zurück, und sie trat vor und warf einen Blick auf das Ergebnis.
Die Gesichter erschienen jeweils zu sechst auf dem Bildschirm. Sie starrte sie an, war in einem Winkel ihres Verstandes sicher, dass sie ihn erkennen würde, in einem anderen jedoch ebenso sicher, dass es ihr nicht gelingen würde. Hatte ihr Vater überhaupt das richtige Jahr abgerufen? Er wollte schließlich, dass sie versagte, so viel war recht deutlich geworden.
153
Womöglich betrog er sie … Aber das konnte sie sich selbst jetzt nicht vorstellen.
Suizas logen nicht… Und er war ihr Vater.
Er hatte früher gelogen, weil er ihr Vater war. Sie zwang sich, nicht mehr an dieses Dilemma zu denken, und starrte auf den Bildschirm.
Die meisten Gesichter sagten ihr überhaupt nichts. Dafür gab es auch keinen Grund; sie hatte die Garnison Buhollow nie besucht, nachdem man ihren Vater dort stationiert hatte. Ein paar Gesichter kamen ihr vage vertraut vor, wirkten aber nicht bedrohlich. Das waren sicher Männer, die schon vorher unter ihrem Vater gedient hatten, sogar bei der Hausgarde der
Estancia. Zu ihnen gehörte ein viel jüngerer Sebastian Coron, den sie sofort erkannte … Also funktionierte ihr Gedächtnis in einigen Details selbst über diese Zeitspanne hinweg gut.
Sie hörte ihren Vater atmen, während sie die Liste durchging.
Sie sah ihn nicht an. Es fiel ihr schwer genug, sich auf den Monitor zu konzentrieren. Bild auf Bild … Sie hörte, wie ihr Vater sich auf seinem Stuhl bewegte, aber er mischte sich nicht ein. Jemand tauchte an der Tür auf; sie hörte Kleider rascheln, hob aber nicht den Blick. Ihr Vater musste der Person einen Wink gegeben haben, denn ohne dass ein Wort gefallen wäre, entfernte sich das Rascheln wieder, und die Tür fiel sachte ins Schloss.
Als sie die gesamten Mannschaftsränge durchgegangen war, hatte sie das Bild noch nicht gefunden, das der eigene Verstand ihr zu zeigen verweigerte. Zweifel ließen sie frieren. Jenes Gesicht, an das sie sich erinnerte, war verzerrt gewesen von welcher Emotion auch immer, die Männer dazu bewegte,
154
Kinder zu vergewaltigen … Vielleicht fand sie es nie unter diesen ernsten, fast ausdruckslosen Gesichtern im Katalog. Es musste aber hier sein … Sicherlich hätte Coron es ihr gesagt, wenn es jemand aus einer anderen Einheit oder ein Offizier gewesen wäre.
Hätte er das? Sie zwang sich, die Suche fortzusetzen, bis hin zu den Offizieren. Dort an der Spitze fand sie ihren Vater, ohne jede graue Strähne im Haar, der Mund eine feste Linie. Darunter in absteigender Reihenfolge … Ihr stockte der Atem. Ja! Ihr Herz flatterte erst und raste dann donnernd in der Brust, angespornt von dieser alten Furcht. Er starrte aus dem
Bildschirm hervor, gepflegt und gut aussehend, das honiggelbe Haar zurückgekämmt… In ihrer Erinnerung war es dunkler,
verklebt von Schweiß und Dreck. Aber sie hatte keinen Zweifel, überhaupt keinen.
Sie forschte in diesem Gesicht nach Hinweisen auf seine
Vorlieben .., nach irgendeinem Zeichen der Verderbtheit.
Nichts. Regelmäßige Züge, klare graue Augen; eine Farbe, die auf Altiplano nicht sehr verbreitet, aber hoch geschätzt war. Der
Weitere Kostenlose Bücher