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Heldin wider Willen

Heldin wider Willen

Titel: Heldin wider Willen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Moon
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kleine Knopf für einen Abschluss mit Auszeichnung, die Tresse auf dem Schulterstück, die ihn als jemandes ältesten Sohn auswies und damit als jemanden, von dem mehr erwartet wurde.
    Die Lippen bildeten eine gerade Linie, eine bewusste
    Nachahmung der Mimik ihres Vaters – und sie wirkte auch
    nicht grausamer. Sein Name … Sie kannte seinen Namen. Sie kannte seine Familie. Sie hatte mit seinen jüngeren Brüdern bei den Erntespielen getanzt, in dem Jahr, ehe sie Altiplano verließ und zu den Sternen reiste.
    Ihr Mund war zu trocken, als dass sie hätte reden können. Sie bemühte sich zu schlucken, die Zunge freizumachen. Damals 155
    hatte sie auch darum gekämpft. Endlich bekam sie ein Wort hervor: »Der.« Sie legte den Finger auf das Bild, überrascht über die ruhige Hand; ihr Finger zitterte kein bisschen.
    Ihr Vater stand auf; sie hörte, wie er sich ihr von hinten näherte, und bemühte sich angestrengt, nicht zusammen-zuzucken. Er grunzte zunächst, als hätte ihm jemand einen Schlag in den Magen versetzt. »Ihr Götter! Du hast… Wie konntest du …«
    Der Zorn befreite ihre Zunge. »Ich habe es dir doch gesagt!
    Ich erinnere mich wieder.«
    »Esmaya …« Es war ein Stöhnen, ein Flehen, und als er ihr die Hand aufs Haar legte, galt dafür das Gleiche. Sie entzog sich dem durch eine Bewegung zur Seite, stand hastig vom Stuhl auf und stieß sich dabei vom Terminal ab.
    »Ich wusste nicht, wie er hieß«, sagte sie. Erstaunlich – es fiel ihr leicht, in gleichmäßigem Ton und mit forschen Worten zu reden. »Ich war noch zu jung, um ihm vorgestellt zu werden, obwohl er vorher schon unser Haus besucht hatte. Ich konnte dir seinen Namen nicht nennen und auch nicht die Art von
    Beschreibung liefern, wie es ein Erwachsener womöglich hätte tun können. Aber ich kannte ihn. Damals hast du mir das Verzeichnis nicht gezeigt, nicht wahr?«
    Als sie hinsah, hätte das Gesicht ihres Vaters auch aus ge-bleichtem Holz geschnitzt sein können; es wirkte trocken und steif, unnatürlich. War das ihre Sichtweise oder entsprach es der Wirklichkeit? Ihr Blick wanderte durchs Zimmer, nahm nur kurz die vertrauten Dinge zur Kenntnis, ehe er weiterzog. In ihrem Verstand verschoben sich die Gewissheiten immer mehr, als wäre das, was bisher als solide Mauern gewirkt hatte, nur 156
    eine Sammlung aufgemalter Bilder auf beweglichen
    Trennschirmen gewesen. Was wusste sie wirklich von sich
    selbst, von der eigenen Vergangenheit? Worauf konnte sie sich noch verlassen?
    Vor diesem Chaos hoben sich die zurückliegenden Jahre bei der Flotte als feste Größe ab: Sie wusste, was in dieser Zeit geschehen war. Vom ersten Tag auf der Vorbereitungsschule bis hin zum letzten Tag vor dem Kriegsgericht wusste sie präzise, was sie getan hatte und wer was mit ihr gemacht hatte. Diese Welt hatte sie sich selbst aufgebaut; sie konnte ihr vertrauen.
    Admiral Vida Serrano, die ihrem Vater mühelos gleichzustellen war, hatte sie nie belogen – hatte nie eine andere Person auf Esmays Kosten abgeschirmt.
    Alles war entbehrlich, was sie im eigenen Inneren hatte
    unterdrücken oder eingrenzen müssen, um diese Zuflucht
    möglich zu machen. Sie brauchte den Teil von sich selbst nicht wiederzufinden, der gern geritten oder gemalt oder alte
    Instrumente gespielt hatte … Sie brauchte nur dafür zu sorgen, dass sie in Sicherheit war, und das hatte sie recht gut geschafft.
    Sie konnte Altiplano aufgeben; sie hatte es schon aufgegeben.
    »Esmaya… Es tut mir Leid.« Wahrscheinlich war das
    aufrichtig, diesen Gedanken gönnte sie sich, aber es war gleichgültig. Es tat ihm zu spät und zu wenig Leid. »Falls … Da du dich jetzt erinnerst, brauchst du wahrscheinlich eine Therapie.«
    »Eine Therapie, hier? « Das entfuhr ihr, ehe sie die Gefühle darin beherrschen konnte, die Verachtung und die Wut.
    »Hier, wo die Therapeuten mir gesagt haben, es wäre alles nur eingebildet, nur in Fieberträumen geschehen?«
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    »Es tut mir leid«, wiederholte er, diesmal jedoch mit einer Spur Verärgerung. Sie kannte diesen Ton; er konnte sich zwar entschuldigen, ging aber gleichzeitig davon aus, dass die jeweilige Sache damit erledigt war. Er ging davon aus, dass sie diese Entschuldigung annahm und das Thema auf sich beruhen ließ. Aber nicht diesmal. Nicht noch einmal. »Ich – wir – haben einen Fehler gemacht, Esmaya. Das können wir nicht mehr
    ändern; es ist Vergangenheit. Ich kann dich unmöglich davon überzeugen, wie schlimm mir dabei zumute ist, diesen

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