Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
selten die mangelnde häusliche Kommunikation ist, scheint keine Konsequenzen zu haben.
Die Zeiten, in denen Eltern beruhigt waren, wenn sich ihr Kind ganz normal altersgemäß entwickelte, wenn es irgendwann krabbelte, wenn irgendwann der erste Zahn durchkam, wenn es irgendwann die ersten Schritte tat, scheinen vorbei zu sein. Selbst die Einschulung wird von immer mehr Eltern in hohem Maße problematisiert. Immer mehr Kinder werden nämlich gezielt später eingeschult. Im Herbst 2012 wird etwa aus Bayern gemeldet: 2001 wurden 5867 Kinder erst mit sieben Jahren eingeschult. 2011 waren es mit 12158 mehr als doppelt so viele. In Berlin stieg die Zahl der Zurückstellungen bei der Einschulung in mehreren Bezirken: 2010/11 waren es sechs Prozent, 2011/12 acht Prozent, 2012/13 zwölf Prozent der potenziellen ABC-Schützen. Den Sechsjährigen soll, so die Eltern, für ein Jahr noch der Schulstress erspart bleiben. Dabei kann ein weiteres Jahr schulfreie «Kindheit» alles andere als ein Jahr gewonnener Kindheit sein, sondern ein langweiliges viertes Jahr Kindergarten. Der wahre Grund für die Zurückstellungen – so sagen es viele dieser Eltern hinter vorgehaltener Hand – dürfte ein eigenwilliges Konkurrenzdenken sein. Das Kind, das nach der Zurückstellung um ein Lebensjahr älter in die Schule startet, kann leichter zu den Besten der Klasse gehören, und es hat – vermeintlich – bessere Chancen zum Durchstarten. Vielfach dürfte genau das Gegenteil der Fall sein, denn Kinder, die erst mit sieben Jahren eingeschult werden, langweilen sich in der ersten Klasse in einem Maße, dass eine mit der Langeweile sich einstellende nonchalante Arbeitshaltung zur Gewohnheit über die erste Klasse hinaus wird. Der Traum der Eltern, ihr 7-jähriges Kind in einer Klasse von weniger reifen und weniger entwickelten 5-Jährigen brillieren zu sehen, könnte dann wie eine Seifenblase platzen.
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Verwöhnung und Verschonung
Neben dem Kontroll- und Förderwahn dürfte die Verwöhnung ein weiteres großes Erziehungsproblem sein. Denn Fördern und Verschonen sind kein Widerspruch und gehören gleichermaßen zum Erziehungsrepertoire der Helikopter-Eltern. Wie Umfragen belegen, haben mehr als zwei Drittel der Bevölkerung den Eindruck, dass immer mehr Kinder immer häufiger und immer intensiver verwöhnt werden. Früher war dies seltener der Fall, weil Verwöhnung unter den damaligen Lebensumständen und bei den großen Kinderzahlen gar nicht möglich war. Allein die Wohnverhältnisse standen dagegen: Von der heutigen Großelterngeneration sagen 31 Prozent, sie hätten in ihrer Kindheit ein eigenes Zimmer gehabt, die heute 8- bis 12-Jährigen können sich mit einem Anteil von 73 Prozent in ein eigenes Zimmer zurückziehen, glaubt man IfD-Umfragen für das Allensbacher Generationenbarometer 2009.
Zu viel des Guten
Ein überaus anschauliches literarisches Beispiel eines Verwöhnprivilegs stellt der 1859 erschienene Roman «Oblomow» des Russen Iwan A. Gontscharow dar: Es geht darin um einen russischen Adeligen, der in völliger Lethargie erstarrt, weil er von jeder Verantwortung befreit und von einer Schar von Dienern umgeben ist. Ausgehend von seinem Namen hat sich im Russischen sogar der Begriff «Oblomowschtschina» (deutsch: Oblomowtum, Oblomowerei) als Synonym für Verwöhnung eingebürgert. Der Begriff «Oblomow-Syndrom» diente in der Psychiatrie lange Zeit als Beschreibung eines Persönlichkeitstypus, der neurotisch, antriebslos, apathisch, faul und parasitär ist. Heute, in einer Wohlstands- und Wohlfahrtsgesellschaft, ist Verwöhnung allerdings ein Massenphänomen mit vermutlich gravierender Störung des gesellschaftlichen, ökologischen und des Generationengleichgewichts geworden.
Verwöhnen – was ist das eigentlich genau? Das Wort «verwöhnen» gibt es im heute gebrauchten Sinn in der deutschen Sprache seit rund 800 Jahren. Bereits um 1200, also im Mittelhochdeutschen, kommt es bei Wolfram von Eschenbach und Hartmann von Aue vor. Damals noch in der Schreibweise «verwenen» bzw. «verwen(e)t», im Niederdeutschen als «verwennen». Wenig später taucht das Wort bei dem Mystiker Meister Eckhart (ca. 1260 bis 1328) auf, und zwar im Sinne von «verweichlichen, verzärteln, verhätscheln», «zu viel Willen lassen», «den Zaum zu lang lassen», «den Kindern zu weich sein», «schädliches Gewöhnen an etwas» bzw. «an Bequemes gewöhnen». Das Grimm’sche Wörterbuch gibt darüber Auskunft. Ab
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