Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
der Bibelsentenz: «Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …»
Aber auch sonst hat sich das Eltern-Kind-Verhältnis verändert. Kinder sind nicht mehr in erster Linie da, Eltern im Alter zu versorgen oder einen Familienbetrieb fortzuführen, sie sollen vielmehr dem Leben der Eltern einen Sinn geben. Bei diesem Wandel spielte die Einführung der Schulpflicht eine entscheidende Rolle. Diese Einführung zog sich je nach Land und Fürstentum über das ganze 19. Jahrhundert hin. Die Schule drängte die Kinderarbeit zurück, und das Kind wurde nicht mehr als kleiner Erwachsener gesehen. Dass dieser Wandel in bürgerlichen Kreisen früher, in armen Familien langsamer und später vonstatten ging, ist klar. In jedem Fall aber war die Einführung der Schulpflicht eine gewaltige soziale Errungenschaft.
Ein weiterer Wandel des Verständnisses von Kindheit geschah ab dem Jahr 1900. Vor allem bekam Kindheit mit dem Aufkommen von Psychologie und Psychoanalyse einen neuen Status. Der Einfluss dieser beiden Wissenschaften bzw. psychologischen Schulen kann gar nicht unterschätzt werden. Eine Rolle spielt sodann Ellen Key mit ihrer Schrift «Das Jahrhundert des Kindes» (1902). Sie sprach von der «Majestät des Kindes», angesichts deren die Eltern ihr Haupt in den Staub zu beugen hätten. Der «Instinkt des Kindes» könne sich nicht irren. Die Meister seien demnach die Kinder, die Erwachsenen die Lehrlinge. Womöglich haben manche Erwachsene dies zu wörtlich genommen und das Kindliche zum eigenen Leitbild erkoren. Ellen Key beispielsweise sehnte gar eine Sintflut herbei, die alle – pädagogische – Literatur hinwegspült. Überleben sollen laut Key in der Arche «nur Montaigne, Rousseau, Spencer und die neuere kinderpsychologische Literatur». Vergessen scheint bei aller noch heute vorhandenen Verklärung der Person Ellen Keys ihre «neue Ethik» auf rassenhygienischer Grundlage sowie ihr Werben für ein entsprechendes Paarungsverhalten. Wäre es nach Key gegangen, dann hätte sich ein Ehepaar erst untersuchen lassen müssen, bevor es Kinder hätte zeugen dürfen.
Wie auch immer man die Geschichte der Kindheit bewertet, bleibt eine Frage des persönlichen Urteils. Eine Romantisierung der «freien» Kindheit des Mittelalters ist wohl nicht angebracht. Auch sonst ist die Geschichte der Kindheit keine Geschichte eines reinen Fortschritts, denn heute stehen Familien unter einem – manchmal nur gefühlten – Erziehungsdruck, der historisch ohne Vorbild ist. Als großer Fortschritt freilich bleibt, dass Kinder zumindest in der westlichen Welt heute weit gesünder und sicherer als zu jedem anderen Zeitpunkt der Geschichte leben können.
Eines freilich bleibt kritisch zu reflektieren: Kindheit verkürzte sich immer mehr, zugleich verlängerte sich die Jugendphase, die es bis ins 19. Jahrhundert hinein außerhalb des Bürgertums de facto nicht gegeben hatte: nach vorne in Richtung Kindheit und nach hinten in Richtung Erwachsenenwelt bis hinein ins beginnende vierte Lebensjahrzehnt. Eigentlich eine paradoxe Entwicklung: Indem man den Kindern Jahre um Jahre der Kindheit nimmt, verlängert man die Jugend und damit die Lebensphase der Unmündigkeit.
Gibt es überhaupt die Jugend?
Wer die Jugend von heute und die Jugend der letzten eineinhalb Jahrzehnte in etwa meint einschätzen zu können, der kann erahnen – mehr nicht –, welche Elterngenerationen demnächst anstehen. Zwar ist es mit Aussagen über die Zukunft so eine Sache. Wenn man aber weiß, dass ein Großteil junger Eltern zumindest tendenziell das fortsetzt, was man selbst an erzieherischer Prägung erfahren hat, dann sind vorsichtige Projektionen möglich, zumindest reizvoll.
Das Problem dabei ist, dass es «die» Jugend nicht gibt. Medien und Politik lieben zwar markante und einprägsame Begriffe für die Beschreibung von Sachverhalten. Soziologie und Meinungsforschung sind gerne bereit, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Das gilt auch für die Etikettierung von «Jugend». Allerdings war und ist Jugend zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt etwas ziemlich Heterogenes. Die Globalisierung hat daran wenig geändert, außer dass gewisse Entwicklungen den gesamten Erdball bzw. zumindest die freie Welt nun schneller als zuvor erfassen und gewisse Vereinheitlichungen rascher erfolgen.
Wenn seit mehr als einem halben Jahrhundert Jugendetiketten die Runde um den Globus oder quer durch Deutschland machen, so mögen diese aparte semantische Spielereien sein und
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