Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
Faulsein ermöglichen. Man denke an Roboter oder Haushaltsautomaten. Durch diese Phasen wird Kreativität möglich und Energie gesammelt.
Nennen wir das Ausleben einer höheren Langeweile Muße. Sie ist schöpferische Gestaltung freier Zeit. Solche «hohe» lange Weile stand womöglich schon an der Wiege der Menschheit. Laut Søren Kierkegaard schufen die Götter den Menschen, weil sie sich langweilten und weil sie sich belustigen wollten. Und Adam bekam aus seiner Rippe Eva geschaffen, weil er sich sonst gelangweilt hätte.
Man kann noch einen Schritt weiter gehen und behaupten: Es gibt ein Recht auf Faulheit! Paul Lafargue kennt heute niemand mehr. Entreißen wir diesen französischen Arbeiterführer und Schwiegersohn von Karl Marx (1842–1911) trotzdem kurz dem Vergessen. Lafargue schrieb nämlich 1883 ein Pamphlet mit dem Titel «Recht auf Faulheit». Darin finden sich so poetische Sätze wie: «O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, du Balsam für die Schmerzen der Menschheit.»
Natürlich ist bekannt, dass die Trägheit des Herzens eine der sieben Todsünden ist und dass laut Volksmund Müßiggang aller Laster Anfang ist. Dennoch sei eine Lanze gebrochen für die Faulheit. Sie ist oft ein letztes Ich-Fenster, aus dem wir – noch unbeeindruckt vom «chillen» und «entertainment» – in die Welt schauen können. Deshalb sollten die Menschen – auch die Eltern zusammen mit ihren Kindern – gelegentlich zur Notbremse greifen und ihr Dasein entschleunigen, damit es kein bloßes Bis -Sein, kein bloßes Schielen auf Fristen und Termine wird.
Die Menschen und damit auch Kinder sollten sich Entschleunigungsinseln schaffen: nicht mit Rumhängen, sondern mit Nachdenken, Lesen, Erzählen und Zuhören. Damit streckt man die Zeit, schafft Raum für die Zeit. Und wer es denn als Nihilist oder Existenzialist so will, dem sei gesagt: Erst auf dem Gipfel der Langeweile erfährt man den Sinn des Nichts.
Für die These, dass Erziehung und Bildung lange Weilen brauchen, gibt es ansonsten hochkarätige Begründungen. Der Mensch braucht die lange Weile, weil die Geschwindigkeit der Abläufe im Gehirn nicht manipulierbar ist. Das Denken lässt sich nicht maßgeblich beschleunigen. Und alles Neue braucht seine Zeit, damit es aus der Flüchtigkeit der Wahrnehmung in die Dauerhaftigkeit des Gedächtnisses hinübergelangt. Solches Lernen ist ein Schaffen von Redundanz, denn bislang Neues wird durch Lernen zum Überflüssigen – deshalb zum Überflüssigen, weil man das Neue dann ja kennt.
Das ist kein Plädoyer dafür, nur noch faul zu sein. Es ist vielmehr ein Plädoyer für ein Recht auf lange Weile – allerdings nur für den, der vorher fleißig war. Dann ist Müßiggang Trägheit mit Sinn. Kurzum: Faulheit ist das Privileg der Fleißigen. Auf Maß und Mitte kommt es also an: Nur zu «powern» geht nicht, sonst ist man bald ausgebrannt. Nur zu «relaxen» geht ebenfalls nicht, sonst verblödet man. Das ist wichtig für Eltern, aber auch für Kinder.
In Bezug auf Erziehung und Bildung schreibt Friedrich Nietzsche: «Unsere größten Stunden, das sind oft nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten.» «Bildung» ist eben doch weit weg vom Trimmen für Markt und Gelderwerb zu verstehen.
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Abkehr von der Abitur-Vollkasko-Schule
Wenn es um das Phänomen der Helikopter-Eltern und der Erziehung heute geht, muss man einen gesonderten Blick auf das Bildungswesen, speziell die Schule, werfen: Denn Bildung, gute Noten und der damit verbundene erfolgreiche Start ins Leben sind besonders dem verstärkten Engagement dieser Eltern ausgesetzt, wie an den zahlreichen Beispielen aus dem Schulalltag in diesem Buch deutlich geworden sein sollte.
Schule im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit
Eltern machen sich natürlich Gedanken über das Schulwesen und dessen Struktur. Sie sollten dies durchaus auch in sehr grundsätzlicher Betrachtung tun, zum Beispiel indem sie darüber nachdenken, dass Schule im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit steht. Bezogen auf die Ausgestaltung von Schulbildung lautet die Frage also auch aus Elternperspektive: Soll ein Schulwesen am Prinzip Freiheit oder am Prinzip Gleichheit orientiert sein? Eltern sollten sich wieder mehr darauf besinnen, dass die Antwort eigentlich nur lauten kann: Tendenziell weitaus mehr an der Freiheit! Denn selbst wenn wir dazu neigen, jede Form von Ungleichheit zu skandalisieren, gilt: Die «conditio humana» kennt
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