Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
Schiller im 15. seiner 27 Briefe «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» (1793). Spiel ist «gestaltete Zeit» (Adolf Portmann), und für den «homo ludens» eines Johan Huizinga ist das Spiel ein «Als-ob-Handeln» und damit Grundlage kultureller Tätigkeit. Für Nietzsche ist es als Kunst sogar lebensnotwendig, wenn er schreibt: «Wir haben die Kunst, damit wir am Leben nicht scheitern.»
Velozifer, der Gott der rasenden Geschwindigkeit, darf nicht dominieren. Es war Johann Wolfgang von Goethe, der dieses Kunstwort prägte: «veloziferisch» – das ist «velocitas» für Eile und «lucifer» für den Gott des Lichts bzw. den gefallen Erzengel. Gewiss soll der Mensch etwas machen aus seiner Zeit und sie keineswegs vergeuden – wahrscheinlich hätte es den Aufstieg Nachkriegsdeutschlands nicht gegeben ohne diese Haltung und den fleißigen Michel –, aber es kommt immer auf das Was an.
Wer über Erziehung und Bildung nachdenkt, muss also auch über Zeit nachdenken. Er wird feststellen: Die Menschen haben immer mehr Zeit, und deshalb hätten sie eigentlich immer mehr Zeit für Kulturelles und Bildung: Die Lebenserwartung steigt in der westlichen Welt unvermindert an. Die verbindliche Arbeitszeit hat sich in einem Jahrhundert zugunsten der Freizeit fast halbiert. Die für einen Produktionsvorgang notwendige Zeit konnte aufgrund neuer Werkzeuge und Technologien immer kürzer werden. Die Informationsbeschaffung hat sich dramatisch beschleunigt. Wir haben pro Familie immer weniger Kinder, um die man sich kümmern muss. Reisen und Transporte dauern nur noch einen Bruchteil der früheren Reisezeit. Wir haben damit einen Gewinn an Zeit. Das Paradoxe aber ist: Wir haben immer mehr Zeit, aber die Zeit wird uns immer knapper.
Diese Knappheit ist freilich hausgemacht: Wir sind, ob jung oder alt, zu Simultanten geworden – nicht zu verwechseln mit Simulanten –, Simultanten, die alles Mögliche simultan tun wollen, um Zeit zu gewinnen – und um ja nichts zu versäumen.
Die Folge ist die Entstehung einer hochgradigen Zeitneurose in Form eines Multitasking. Wir haben uns einem rasenden Stillstand ausgeliefert und damit den Zustand einer Stagnation durch tatsächliche oder vermeintliche Innovation erreicht. Joseph Weizenbaum spricht hier von «Stagnovation». Damit sind wir bei einem Zustand angekommen, in dem – wie beim tödlichen Herzflimmern – das hektische Oszillieren von einem totalen Stillstand nicht mehr zu unterscheiden ist. Die Folge ist: Die Gegenwart schrumpft. Das Nächste, das Zukünftige ist schneller da, und wenn es da ist, dann ist es sofort schon Vergangenheit.
Es ist auch falsch, Zeit nur physikalisch als «Leistung ist Arbeit je Zeiteinheit» zu betrachten. Ebenso falsch ist es, Zeit nur ökonomisch nach dem Grundsatz «time is money» zu werten. Vielmehr sollten wir Zeit gleichberechtigt philosophisch betrachten. Jeder Mensch verfügt dementsprechend nur über ein gewisses Maß an Zeit. Seneca spricht von dem «tempus suum» eines jeden Menschen. Diese je eigene Zeit sei des Menschen wichtigstes Eigentum. Wird sie gestohlen, ist sie unwiederbringlich. Man kann sie vergeuden, etwa vor dem Bildschirm, man kann sie aber auch herschenken, zum Beispiel als Eltern seinen Kindern.
Zeit haben heißt Weile haben. Eine solche Weile kann kurz sein, als Weilchen ist sie etwas durchaus Nettes, und sie kann lang sein. Als lange Weile (Langeweile) kennen wir sie in zwei Ausprägungen: als niedere und als hohe Langeweile. Niedere Langeweile ist anstrengend, macht aggressiv, vermittelt ein Gefühl von Verlorenheit und ergibt am Ende nicht selten ein Sinnvakuum. In der Folge kann sich eine schmerzliche Selbstaufmerksamkeit bis hin zur Hypochondrie einstellen. Daraus kann sich ein zielloser Konsumismus ergeben. Folge: «Wir amüsieren uns zu Tode», wie Neil Postman nachwies.
Es gibt daneben die «hohe» Langeweile, die den Menschen, auch den heranwachsenden, erst zum Menschen macht. Voltaire wusste: Wenn sich Affen langweilen würden, wären sie Menschen. Hohe Langeweile kann eine kreative Kraft sein, weil das Neue und das Wesentliche damit eine Chance erhalten. Deswegen braucht gerade der junge Mensch neben der «vita activa» die «vita contemplativa», das Zurücklehnen, die Faulheit. Das hat auch für später etwas enorm Konstruktives. Viele Erfindungen der Menschheit gäbe es nicht, wenn die Menschen aus Faulheit nicht Erfindungen gemacht hätten, die ihnen die Arbeit erleichtern und die das
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