Helix
getrennte Fährten und dachten getrennte Gedanken. Es war hell, als wir das Ende des verschneiten Steilhangs erreichten.
Wo das Schneefeld endete, begann eine senkrechte, mindestens hundertfünfzig Fuß hohe Klippe aus Eis. Das ist nicht übertrieben, die Wand fiel buchstäblich senkrecht ab. Wir vier standen im Morgenlicht davor. Drei rieben sich die Schneebrillen und starrten benommen die Klippe an. Wir hatten ja gewusst, dass sie da war. Wir hatten nur nicht gewusst, wie schwierig sie sein würde.
»Ich übernehme die Führung«, keuchte Paul. Er konnte kaum noch laufen.
Er ging im Freeclimbing-Stil in weniger als einer Stunde hoch, knallte die Eishaken und Schrauben in die Wand und band unser letztes verdammtes Seil daran fest. Als wir drei langsam und benommen kletterten und ihm folgten – ich machte hinter K die Nachhut –, war Paul nur noch halb bei Bewusstsein.
Über der Eisklippe erhob sich wieder eine steile Felswand. Sie war so steil, dass der Schnee nicht haften bleiben konnte. Die Felswand war verwittert und gefährlich. Genau die Sorte von gefährlichem Gelände, das jeden vernünftigen Bergsteiger auf die Idee bringt, lieber einen halben Tag auf eine Traverse zu verwenden.
Heute sollte es keine Traverse geben. Jeder Versuch, auf dieser Bergflanke seitlich auszuweichen, würde in den weichen Schneelagen auf dem alten Eis mit großer Sicherheit Lawinen auslösen.
»Ich führe«, sagte Gary. Er starrte zum Felsvorsprung hinauf, beide Hände an den Kopf gelegt. Ich wusste, dass Gary immer am stärksten unter den Kopfschmerzen litt, die uns alle drei in der Todeszone plagten. Ich wusste, dass in den nächsten vier oder fünf Tagen und Nächten jedes Wort, das Gary sagte, zitternd gesprochen werden würde, begleitet von Schmerzen, die wie Messer hinter seinen Augen stachen.
Ich nickte und half Paul auf die Beine. Gary kletterte schon über die untersten Schichten des zerkrümelnden Gesteins.
Am Nachmittag haben wir das obere Ende der Felswand erreicht. Der Wind nimmt zu. Der Schnee wird wie Gischt von der fast senkrechten Wand aus Eis und Schnee über uns heruntergeweht. Den Gipfel können wir nicht sehen. Über einem schmalen Couloir, das wie ein Kamin in die kalte Hölle da oben führt, beginnt das Schneefeld der Gipfelpyramide. Wir sind jetzt irgendwo oberhalb von 27.000 Fuß. Der K2 ist 28.250 Fuß hoch.
Die letzten zwölfhundert Fuß könnten auch in Lichtjahren gemessen werden.
»Ich gehe durch den Kamin voraus«, sage ich. Die anderen nicken nicht einmal und warten nur darauf, dass ich losgehe. Kanakaredes stützt sich mit einer Haltung, die ich noch nie bei ihm gesehen habe, auf seinen Eispickel.
Nach dem ersten Schritt im Couloir versinke ich bis zu den Knien im Schnee. Es ist unmöglich. Ich würde jetzt weinen, aber die Tränen würden im Innern meiner Schneebrille anfrieren und mich blenden. Es ist unmöglich, in diesem verdammten Loch auch nur einen weiteren Schritt zu machen. Ich kann nicht einmal atmen. Mein Kopf pocht so heftig, dass mir alles vor den Augen verschwimmt. Ich kann so oft über die Brille reiben, wie ich will, das Bild wird nicht klar.
Ich hebe meine Eisaxt, hacke sie drei Fuß höher hinein und ziehe das rechte Bein an. Einmal und noch einmal.
Schneefeld der Gipfelpyramide über dem Couloir, etwa 27.800 Fuß
Spätnachmittag. Es wird fast dunkel sein, wenn wir den Gipfel erreichen. Falls wir den Gipfel erreichen.
Alles hängt vom Schnee ab, der sich vor dem unmöglichen, dunkelblauen Himmel auftürmt. Wenn der Schnee fest ist, nicht so matschig und tief wie die bis zum Schenkel reichende dicke Suppe, durch die ich im Kamin gespurt bin, dann haben wir eine Chance, den Gipfel zu erreichen, auch wenn wir in der Dunkelheit absteigen müssen.
Aber wenn der Schnee zu tief ist …
»Ich gehe vor«, sagte Gary. Er hievte sich den kleinen Gipfelrucksack auf den Rücken und schlurfte langsam zu mir, um mich an der Spitze abzulösen. Über dem schmalen Kamin gibt es einen Sims, von dem aus er entweder auf dem Schnee oder durch den Schnee laufen wird. Wenn die Oberfläche fest ist, werden wir auf dem Schnee laufen und unsere Steigeisen benutzen, Stufen ins Eis treten und auf diese Weise die letzten Stunden bis zum Gipfel aufsteigen, den wir von hier aus allerdings immer noch nicht sehen können.
Ich versuche, mich zu orientieren. Direkt unter meinen Füßen, unglaublich tief unter mir, liegt der Grat. Weit darunter ist das Camp Zwei, weitere Meilen und Meilen
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