Helix
selbst, doch Roth entlockt ihr einige Informationen. Ihre Eltern waren Akademiker, die Mutter Mathematikerin und der Vater Philosoph. Sie hat einen medizinischen Abschluss erworben, dann in jungen Jahren einen Doktorgrad in Raumfahrttechnik und wurde von einem führenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften für das Raumfahrtprogramm ausgewählt.
»Sie wollten also Flugärztin werden«, sagt Roth.
»Ach, nein, nein«, sagt Vasilisa. »Seit meiner Kindheit wollte ich Kosmonautin werden. Aber obwohl ich einen Abschluss in Raumfahrtmedizin habe, obwohl ich trainiert und gelernt habe, hochmoderne Flugzeuge zu lenken, obwohl ich eine Urkunde von der Fallschirmspringerakademie besitze, kann ich nicht in den Weltraum fliegen. Es ist wahr, dass wir Russen in den letzten vierzig Jahren nur vier Ärzte in den Weltraum geschickt haben. Ich hätte allerdings trotzdem die Chance bekommen können, zur Mir oder zur Internationalen Raumstation zu fliegen, wäre da nicht ein entscheidendes Detail gewesen. Es ist die Tatsache, dass ich nicht urinieren kann – ist dies das richtige Wort, Mr. Roth? Dass ich nicht ans Rad vom Bus urinieren kann.«
Roth sieht sie an und versucht, den Witz zu verstehen.
Vasilisa macht wieder eine anmutige Geste mit der Hand und zuckt mit den Achseln. »Es ist wahr. Es ist eine Metapher, aber es ist wahr. Wissen Sie, wenn die Kosmonauten in den Weltraum fliegen, wenn sie mit der Sojus zur Mir geflogen sind, egal bei welcher Mission, dann gab es eine große Abschiedsfete. Ist das das richtige Wort? Ja, eine große Abschiedsfete vor dem Hangar, wo sie ihre Raumanzüge angelegt haben. Ein General hält eine Ansprache. Techniker und Reporter jubeln. Dann steigen die Astronauten in den Bus, der sie zur Startrampe bringt.«
»Ja«, sagt Roth. »Das sieht in Cape Canaveral so ähnlich aus, nur dass es dort keine Ansprachen von Generälen gibt.«
Vasilisa nickt. »Nun ja, nach der großen Zeremonie springen die Reporter und die VIPs in einen Bus und fahren zum Startplatz, um noch einmal zu feiern, wenn die Kosmonauten dort eintreffen, aber die Kosmonauten halten unterwegs an und steigen aus und pinkeln – ist dies das richtige ordinäre Wort für urinieren, ja? Sie fummeln in ihren Raumanzügen herum, und dann pinkeln sie an das rechte Hinterrad des Busses.«
»Warum tun sie das?«, fragt Roth. Die Tu-134 legt sich über dem Aralsee schräg und beginnt den Landeanflug auf Baikonur. »Eine Art Aberglaube?«
»Ja, genau das ist es«, sagt Vasilisa. »Unser gesalbter Weltraumheiliger Yuri Gagarin hat genau dies vor seiner ersten Erdumkreisung im Jahre 1961 gemacht, und seitdem müssen alle Kosmonauten vor dem Start das Gleiche tun.«
»Aber es gab doch einige Kosmonautinnen.«
Wieder macht Vasilisa die anmutige Handbewegung. »Ja. Drei russische Frauen waren im Weltraum – Valentina Tereschkowa im Jahre 1963, Swetlana Sawitskaja war in den Achtzigerjahren zweimal auf der Saljut- Station, Elena Kondakowa war 1994 als Flugingenieurin auf der Mir und ist später in Ihrem Shuttle mitgeflogen.«
»Drei Frauen in über vierzig Jahren«, sagt Roth. »Ich frage mich, wie viele Frauen wir Amerikaner hinaufgeschickt haben …«
»Zweiunddreißig«, sagt Vasilisa rasch. »Eingeschlossen Eileen Collins, die im Shuttle das Kommando hatte. Keine russische Frau hat je bei einer Mission als Pilotin das Kommando gehabt. Tereschkowa, die Erste, wurde in den Raum geschickt, damit sie … ich glaube, man sagt wohl, damit sie befruchtet werden konnte … von dem männlichen Kosmonauten, damit die sowjetischen Behörden die Auswirkungen der kosmischen Strahlung auf die Nachkommen erforschen konnten. Sie konnte nicht einmal ein Flugzeug fliegen, von einem Raumschiff ganz zu schweigen. Sie war bloß biologische Nutzlast.«
»Aber die anderen beiden russischen Frauen müssen doch eine aktivere Rolle gespielt haben«, sagt Roth. Wider Willen muss er lächeln.
Vasilisa lächelt traurig. »Haben Sie zufällig Valentin Lebedews Tagebuch eines Kosmonauten gelesen? Lebedew war der Kommandant der Mission, die 1982 zur Raumstation Saljut flog. Swetlana Sawitskaja war seine Flugingenieurin.«
»An, nein«, sagt Roth immer noch lächelnd. »Das Buch liegt auf meinem Nachttisch, aber ich bin noch nicht dazu gekommen.«
Vasilisa nickt, ihr ist Roths leise Ironie offenbar entgangen. »Kommandant Lebedew schrieb: ›Nach einer Kommunikationsphase baten wir Flugingenieurin Sawitskaja an den schwer beladenen Tisch. Wir gaben ihr eine
Weitere Kostenlose Bücher