Helix
sei ermordet worden, obwohl die Chronologie etwas anderes besagte. Einen Monat lang wurden in Boulder Plakate des siebzehnjährigen Mädchens aufgehängt, doch Reems leugnete bis zu seiner Verurteilung wegen des Mordes an Patricia Dahl, Kelly etwas angetan zu haben. Die Polizei hielt Kelly für eines von vielen entlaufenen Kindern, und Kelly war inzwischen zu alt, um ihr Gesicht auf Milchtüten zu drucken. Anscheinend gab es auch keine Verwandten, die sich um die Sache hätten kümmern können.
Im Frühsommer desselben Jahres fuhr der Pick-up über die Mittellinie. Allan starb, und ich hörte auf zu leben.
Ich finde Kelly Dahl aus Versehen.
Ich habe Wochen oder Monate an diesem Ort oder an diesen Orten verbracht. Die Realität ist eine Jagd, die Bestätigung der Realität sind der Bart, den ich mir stehen lasse, die Rehe und Elche, die ich erlege, um mich mit Nahrung zu versorgen, die Schmerzen in der Seite und am Arm, wo die Pfeilwunde vernarbt, die zunehmende Kraft meiner Beine, meiner Lungen und meines Körpers, weil ich jeden Tag zehn bis vierzehn Stunden draußen verbringe und Kelly Dahl suche.
Und dann finde ich sie aus Versehen.
Ich war zur Front Range zurückgekehrt, nachdem ich ihre Spuren bis fast zum Eisenhower-Tunnel nach Süden verfolgt hatte. Ich hatte sie einen vollen Tag aus den Augen verloren, und jetzt stand ich in den abendlichen Schatten südlich von Nederland am Peak to Peak Highway. Da es am folgenden Morgen, wenn Zeit und Ort sich möglicherweise veränderten, vielleicht keinen Highway mehr geben würde, hielt ich auf einem Campingplatz, den die Forstverwaltung eingerichtet hatte. Menschen und andere Fahrzeuge gab es hier natürlich nicht. Ich schlug das Zelt auf, füllte die Wasserflaschen und briet etwas Wild über dem Feuer. Ich war ziemlich sicher, dass ich die letzten Tage in jener Landschaft aus den Siebzigerjahren verbracht hatte, in der ich mich schon am Anfang bewegt hatte. Straßen und Infrastruktur waren vorhanden, aber keine Menschen, und der Herbst rückte näher. Die Espenblätter flogen wie goldenes Konfetti durch die Luft, der Abendwind wehte kalt.
Ich finde Kelly Dahl, indem ich mich verirre.
Ich habe mal damit angegeben, dass ich mich nie verirre. Selbst im dichtesten Kiefernwald hat mich mein Orientierungssinn nie im Stich gelassen. Ich finde mich im Wald so gut zurecht, die kleinsten Zeichen in der Landschaft weisen mir so sicher den Weg, als hätte ich einen eingebauten Kompass, der nie um mehr als zwei oder drei Grad abweicht. Selbst an bewölkten Tagen zeigt mir das Sonnenlicht die Richtung, und in der Nacht bringt mich ein Blick zu den Sternen auf den richtigen Weg.
Nicht an diesem Abend. Ich verlasse den leeren Campingplatz und wandere etwa eine Meile bergauf durch den dichten Wald, um der Sonne zuzusehen, die nördlich der Arapahoes und südlich des Mt. Audobon untergeht. Die Dämmerung ist kurz, es gibt kein Mondlicht. Hinter der Front Range im Osten, wo der Schein Denvers und seiner Satellitenstädte sein sollte, ist nur Dunkelheit. Wolken bedecken den Nachthimmel. Auf dem Rückweg zum Campingplatz nehme ich eine Abkürzung, gehe von einem Höhenzug aus bergab, steige einen anderen hinauf und bin zuversichtlich, dass dieser Weg kürzer ist. Zehn Minuten später habe ich mich verlaufen.
Die Erkenntnis, mich ohne mein Gewehr, ohne Kompass und mit nichts als meinem Kabar-Messer in der Gürtelscheide verlaufen zu haben, ist nicht beunruhigend. Zuerst jedenfalls nicht. Neunzig Minuten später, tief in einem Kieferndickicht, meilenweit von allen vertrauten Punkten entfernt, beginne ich mir Sorgen zu machen. Ich habe mir nur den Pullover über das Flanellhemd gezogen, und vor dem Morgen könnte es noch schneien. Ich denke an den Parka und den Schlafsack im Lager, an das im Steinkreis aufgestapelte Brennholz und an den heißen Tee, den ich mir mache, bevor ich mich schlafen lege.
»Idiot«, sage ich zu mir selbst und stolpere einen dunklen Hang hinunter, stürze unten beinahe in einen Stacheldrahtzaun. Unter Schmerzen steige ich über den Zaun. Ich bin ziemlich sicher, dass es in der Nähe des Campingplatzes keine Zäune gibt. Idiot, denke ich noch einmal, und dann frage ich mich, ob ich mich irgendwo hinkauern und die langen, kalten Stunden bis zur Dämmerung abwarten soll.
In diesem Augenblick sehe ich Kelly Dahls Lagerfeuer.
Ich zweifle keine Sekunde, dass es ihr Lagerfeuer ist. Ich war hier lange genug unterwegs, um zu wissen, dass sie der einzige andere
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