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Helix

Helix

Titel: Helix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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auszudehnen, als Savi ringsherum das Eis geschmolzen hatte. Sie setzte einen Haken in die Decke der neuen Höhle und machte am höchsten Punkt des alten Zelts einen Karabinerhaken fest. Mithilfe des Hakens zog sie das Zelt hoch, wie es einst von der mittleren Bambusstange gehalten worden war.
    Nur ein Halogenstab funktionierte noch. Sie hatte ihn bei sich, als sie ihre Thermodecke und das Tagebuch in die schwarze Öffnung des Zelts zerrte. Die Pistole lag vergessen in einer der aufgegebenen Höhlen. Noch zwei Minuten bis zum letzten Fax.
    Bowers, Wilson und Scott lagen genauso da, wie Cherry-Garrard es beschrieben hatte. Savi wusste, dass das nach einer so langen Zeit eigentlich unmöglich war, aber sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Sie schaffte sich Platz zwischen Bowers’ und Wilsons Leichnam, quetschte sich hinein und schlug die letzte Seite des Tagebuchs auf. Unbewusst erwartete sie, dass es in einem so engen Raum wärmer sein müsse, doch die gefrorenen Leichen schienen ihr die Körperwärme zu stehlen. Der kleine Raum, kurzfristig erwärmt vom großen Brenner, kühlte rasch wieder aus. Es roch wie im Fleischlager der Vorratsstation, die Savi vor langer, langer Zeit einmal besucht hatte. Savi war immer noch Historikerin genug, um zu bemerken, dass die steinharten Körper von Scott, Wilson und Bowers, genau wie Cherry-Garrard berichtet hatte, keinerlei Anzeichen dafür aufwiesen, dass die Männer am Ende Morphium aus Wilsons Medizinkästchen genommen hatten. Unter den toten, eingesunkenen, geschlossenen Augen waren keine dunklen Ringe.
    Savis Hand zitterte vor Kälte, doch sie schaffte es, den Stift lange genug ruhig zu halten, um zu schreiben: Wir alle waren die verlorenen Kinder. Es waren nicht die Nachmenschen. Es war immer eine Sache von …
    Sie hielt inne, weil sie laut lachen musste. Sie schob den Stift wieder in die Tasche des Thermoanzugs, steckte die frierenden Hände unter die Achseln und lachte noch einmal. Wen wollte sie eigentlich auf den Arm nehmen? Der einzige Altmensch, der ihres Wissens ihren Abschiedsbrief lesen konnte, ohne eine Funktion aufzurufen, war ein Gelehrter namens Graf, und der würde in … in sechsunddreißig Sekunden verschwinden.
    Savis Gelächter hallte durch die lichtlosen Eishöhlen. Auf einmal, dreißig Sekunden vor dem letzten Fax, brach das Gelächter ab.
    Der letzte Halogenstab erlosch langsam in Savis Schoß, doch er warf noch einen schwächlichen, sterbenden Lichtkreis im Zelt. Gerade genug, damit sie es sehen konnte.
    Wilson, Scott und Bowers hatten die Augen geöffnet.
    Savi tat das Einzige, was ein Altmensch unter diesen Umständen tun konnte. »Ach du Scheiße«, sagte sie. »Ihr könnt mich alle mal.« Und sie lachte noch einmal.

MIT KANAKAREDES AUF DEM K2
     
     

Eine der wenigen »Weisheiten«, an die ich glaube, ist die Aussage, dass die Menschen sich entweder zu den Bergen oder zum Meer hingezogen fühlen. Ich bin ein Bergmensch. Meine Frau ist ein Meermensch.
    Es ist nicht so, dass ich nicht gerne am Meer wäre. Ich bin gerne dort. Und es ist auch nicht so, dass meine Frau die Berge nicht liebt – nein, eigentlich liebt sie sie nicht besonders, denn sie lebt jetzt seit siebenundzwanzig Jahren in Colorado und weiß zwar die malerische Szenerie der hohen Gipfel zu schätzen, doch sie vermag sie nicht wirklich zu lieben … Aber ich bin wirklich gerne am Meer. Es ist nur so, dass man sich in den meisten Fällen entscheiden muss, entweder in der Nähe der Berge oder am Meer zu leben (falls man überhaupt den Luxus hat, sich entscheiden zu können), und ich habe mich 1974 für die Berge entschieden – genauer gesagt, für die Rocky Mountains in Colorado.
    Beides, hohe Berge wie das Meer, lassen nach Freud etwas entstehen, das er als »ozeanisches« Gefühl bezeichnet – das Gefühl, man werde mit etwas Großem konfrontiert, das dem normalen Verständnis nicht zugänglich ist, das nicht an menschliche Maßstäbe gebunden und höchstwahrscheinlich lebendig, vielleicht sogar bewusst ist. Das Meer wirkt gewiss lebendiger als die hohen Gipfel, und sein hervorstechendes Merkmal scheint mir das beständige Flüstern zu sein, das nächtliche Wispern und die morgendlichen Erklärungen, die leise Unterhaltung, die fast ohne Vorwarnung zu kreischendem Wind und donnernder Brandung anschwellen kann. Das Meer hat die Kraft, den menschlichen Geist zu beruhigen oder zu erschrecken, es kann im Handumdrehen seine eigene wie unsere Stimme verändern. In

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