Helix
verließen sie das Zwielicht und überquerten in rosigem Licht eine alte Brücke.
»Ruhmvoll über eine Brücke aus Spinnweben schreiten«, meinte Petra leise.
»Was ist das?«
»Eine Prophezeiung, von der Savi mir vor vielen Jahrzehnten einmal erzählt hat«, sagte Petra. »Es geht um einige Menschen, die in der Legende vom Ende aller Tage nach Jerusalem kommen. Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob es eine christliche, mohammedanische oder jüdische Geschichte war. Es spielt aber auch keine Rolle.« Sie nahm seine Hand, und sie liefen weiter zum Haram esh-Sharif.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Pinchas, der zwischen den hohen, engen Mauern hindurch besorgt nach oben schaute, wo die Ringe am wolkenlosen Himmel schwebten. Die Orbitalstädte flammten in den langen Strahlen der untergehenden Sonne auf.
In der sonst leeren Stadt gab es tatsächlich eine erstaunliche Zahl von Voynixen. Pinchas und Petra mussten den reglosen, verrosteten Körpern immer wieder ausweichen, als sie zur Westmauer eilten. Bis zum letzten Fax blieben noch fünf Minuten.
Als sie auf der erhöhten Fläche vor dem Kotel direkt oberhalb des Platzes herauskamen, blieben sie wie angewurzelt stehen, einander immer noch bei den Händen haltend.
Das Licht auf dem Platz war eingeschaltet worden, obwohl es in der frühen Abenddämmerung noch hell war. Unter ihnen standen Hunderte, wenn nicht Tausende Voynixe, die mehr oder weniger den ganzen Raum zwischen ihnen und der Mauer füllten. Alle waren in Richtung Kotel ausgerichtet, also zur Mauer selbst.
»Komm schon«, sagte Pinchas. Ein Kloß saß ihm in der Kehle, und die Brust wurde ihm eng. Er hatte das Gefühl, er müsse sich beeilen, nahm ihre Hand und wollte sie die Treppe hinunter zu der schweigenden, nichtmenschlichen Versammlung führen.
Ein schwebender Servitor verstellte ihnen den Weg. Die Arme und Hände, die an Comicfiguren erinnerten, zupften beharrlich an Pinchas’ Ärmel. Pinchas verstand. Er nahm von dem Servitor eine Kippa aus Papier entgegen und setzte sie sich auf den Kopf.
Der Servitor glitt zur Seite und ließ sie passieren.
Pinchas blieb wieder stehen. »Schau«, sagte er und zeigte ihr, was er meinte. Seine Stimme bebte. Noch eine Minute bis zum letzten Fax.
»Ich weiß«, flüsterte Petra. »So viele. Ich habe noch nie so viele auf einmal gesehen …«
»Nein«, sagte Pinchas. Wieder deutete er.
Der leere Tempelberg war nicht länger leer. Bei seinem letzten Besuch in Jerusalem waren dort nur die Trümmer des Felsendoms und die Al-Akscha-Moschee im erhöhten Bereich zu sehen gewesen. Jetzt wurde dort auf dem Berg ein mächtiges Gebäude aus strahlend weißem Jerusalemstein errichtet. Überall auf den wachsenden Mauern und den bereitliegenden Steinen waren Voynixe zu sehen.
»Oh, verdammt«, flüsterte Pinchas. »Sie bauen den Tempel wieder auf.«
»Wer?«, fragte die völlig verwirrte Petra.
Bevor Pinchas antworten konnte, drehten sich alle Voynixe, die sie sehen konnten, die Tausende auf dem Platz vor dem Kotel und am Fuß der Mauer, die vielen auf der Baustelle des neuen Tempels, zu den beiden Altmenschen herum.
Was sie dann hörten, war eigentlich kein Lärm, und es waren gewiss keine Worte und keine Geräusche, die sie irgendwann im Leben schon einmal vernommen hatten. Es war ein moduliertes Grollen, das durch ihre Körper lief und über irgendwelche schrecklichen Knochenverbindungen in den Schädeln hallte. Es war laut genug, um die Stimme Gottes zu sein, doch es war ganz gewiss nicht die Stimme Gottes.
Dreißig Sekunden bis zum letzten Fax, und der Ton zwang Petra und Pinchas auf die Knie. Sie pressten sich ohnmächtig die Hände auf die Ohren, um die gebrüllten Worte auszublenden, sie waren auf Knien und schrien gequält vor den unzähligen blinden und dennoch starrenden Voynixen, während das über die Knochen übertragene Grollen in ihnen und um sie herum immer lauter wurde.
»Itbah al-Yahud!«
Savi, wenige Minuten vor dem letzten Fax immer noch in ihrem Eisberg gefangen, las vom Leuchtzifferblatt ihrer Uhr die Zeit ab und beschloss, dass es nun so weit sei, etwas zu unternehmen.
Sie nahm den großen Brenner und schnitt sich vom Tunnel mit dem natürlichen Spalt aus einen Weg bis zu dem verschütteten Zelt. Vorsichtig, vorsichtig.
Natürlich war es ebenjenes Zelt. Es war zusammengebrochen, doch der seitliche Druck des Eises hatte es zusammengeschoben und ihm die ursprüngliche Pyramidenform annähernd zurückgegeben. Es schien sich
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