Helle Barden
es normal, daß in seinen Augen ein solches Licht flackert?« fragte
Schnapper.
»Hörst du mich?« rief Knuddel. »Detritus?«
Der Troll blinzelte. In der Wärme löste sich das Eis von ihm.
Er spürte das Ende eines wundervollen Universums aus Zahlen nahen.
Die steigende Temperatur wirkte auf seine Gedanken wie ein Flammen-
werfer auf Schnee.
»Sag was!« drängte Knuddel.
Türme aus Intel ekt brachen zusammen, als das Feuer durch Detritus’
Gehirn toste.
»He, seht euch das an«, entfuhr es einem Lehrling.
Zahlen zierten die Innenwände des Lagers. In den Rauhreif waren
Gleichungen gekratzt, die mindestens so komplex wirkten wie neuronale
Netze. An einer Stelle der Berechnung hatte der Mathematiker statt Zah-
len Buchstaben benutzt. Und dann hatten auch keine Buchstaben mehr
genügt: Käfigartige Klammern umschlossen Ausdrücke, die für normale
Mathematiker das darstellten, was eine Stadt für eine Landkarte war.
Die Formeln wurden einfacher, als sie sich dem Ziel näherten, doch ih-
re Schlichtheit barg eine spartanische, herrliche Komplexität.
Knuddel starrte sie groß an und wußte: Selbst nach einem hundert Jah-
re währenden, intensiven Studium wäre er nicht imstande, dies zu verstehen.
In der wärmeren Luft verflüchtigte sich der Rauhreif allmählich.
Die Gleichungen schrumpften, als sie sich der Stelle näherten, wo der
Troll gesessen hatte. Schließlich beschränkten sie sich auf einige wenige Ausdrücke, die schimmerten und wie etwas Lebendiges pulsierten: Mathematik ohne Zahlen, so rein wie Blitze.
Am Ende der langen Rechnung erkannte Knuddel ein einfaches Sym-
bol: =.
»Ist gleich was?« fragte er. »Gleich was?«
Der Rauhreif setzte seine Metamorphose fort und wurde zu Wasser.
Knuddel kehrte nach draußen zurück. Detritus hockte inzwischen in
einer Pfütze, menschliche Zuschauer umringten ihn.
»Hat jemand von euch eine Decke für ihn?« fragte der Zwerg.
»Hä?« machte ein dicker Mann. »Wer würde eine Decke noch benut-
zen, nachdem sie auf einem Troll gelegen hat?«
»O ja, natürlich, völlig klar«, erwiderte Knuddel. Er sah zu den fünf
Löchern in Detritus’ Brustharnisch. Für einen Zwerg befanden sie sich
etwa in Kopfhöhe. »Könntest du bitte mal hierherkommen?«
Der Mann sah zu seinen Freunden, grinste und schlenderte näher.
»Ich nehme an, du siehst diese Löcher im Brustharnisch, nicht wahr?«
fragte Knuddel.
T.M.S.I.D.R. Schnapper wußte, wie man überlebte. Nagetiere und In-
sekten erkennen schon an ersten, kaum merklichen Vibrationen, daß ein
schweres Erdbeben bevorsteht. Auf ähnliche Weise witterte Schnapper
Probleme in den Straßen der Stadt. Knuddel war zu nett. Wenn ein
Zwerg jemandem so freundlich begegnete, war eine Gemeinheit zu er-
warten.
»Ich… äh… kümmere mich wieder ums Geschäft«, sagte Treibe-mich-
selbst-in-den-Ruin und wich zurück.
»Ich habe natürlich nichts gegen Zwerge«, versicherte der Dicke unterdessen. »Ich meine, Zwerge sind wie richtige Leute. So sehe ich das.
Kleinere Menschen, in gewisser Weise. Aber Trol e… Trol e sind eben
anders, nich’ wahr?«
»Entschuldigung, Entschuldigung, Platz da, Platz da«, sagte Schnapper.
Mit seinem Imbißwagen erreichte er eine Geschwindigkeit, für die man
normalerweise ein Düsentriebwerk brauchte.
»Du hast da einen hübschen Mantel«, stellte Knuddel fest.
Schnappers Wagen sauste auf einem Rad um die Ecke.
»Ja, wirklich ein hübscher Mantel«, fuhr Knuddel fort. »Weißt du, was man mit einem solchen Mantel machen könnte?«
Der Mann runzelte die Stirn.
»Zieh den Mantel aus und gib ihn dem Trol «, sagte Knuddel.
»Na, so was! Du kleiner…«
Der Dicke packte den Zwerg am Kragen und zerrte ihn hoch.
Knuddels Hand bewegte sich sehr schnell. Metall kratzte.
Einige Sekunden lang verharrten Mensch und Zwerg absolut reglos.
Dadurch boten sie einen interessanten Anblick.
Knuddels Kopf war auf einer Höhe mit dem Gesicht des Mannes. In-
teressiert beobachtete er, wie dessen Augen zu tränen begannen.
»Laß mich runter«, sagte Knuddel. »Ganz langsam. Ich kriege Zuckun-
gen, wenn ich erschrecke.«
Der Arm des Dicken sank in Zeitlupe herab.
»Jetzt zieh den Mantel aus… gut so. Gib ihn mir. Sehr freundlich.«
»Deine Axt…«, brachte der Mann leise hervor.
»Axt? Welche Axt? Meine Axt?« Knuddel senkte den Blick. »Meine Gü-
te. Wußte gar nicht, daß ich sie ausgerechnet dorthin gehalten habe. Tja, die Welt ist voller
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