Hello Kitty muss sterben
klingelte am nächsten Tag gegen sechs Uhr abends an Seans Apartmenttür, ganz kribbelig vor Neugier und Aufregung. Da Sean am Telefon so eindringlich geklungen hatte, rechnete ich damit, dass er mir auf der Stelle aufmachen würde.
Doch dem war nicht so.
Ich klingelte wieder, wobei ich den Daumen so lange auf dem kleinen weißen Knopf ließ, dass es schon unverschämt war.
Keinerlei Reaktion.
Ich rief Sean auf seinem Handy an. Nachdem es zweimal geläutet hatte, ging er endlich an den Apparat. »Hey, Sean, ich habe halb erwartet, dass du mich in deiner Federboa begrüßen kommst. Aber ich würde mich eigentlich schon zufriedengeben, wenn du mir einfach aufmachst.«
»Bist du vor meinem Apartment, Fi?«
»Ja. Du hast mich gestern Abend gebeten vorbeizuschauen, schon vergessen?«
»O ja. Ich entsinne mich. Hör mal, Fi, ich habe gerade ein bisschen viel um die Ohren. Können wir uns stattdessen morgen treffen?«
Im Hintergrund vernahm ich Seemöwen und vermutete, dass Sean sich irgendwo in der Nähe des Kais oder Hafens befand.
»Sean, wo bist du?«
Sean reagierte nicht auf meine Frage, was ich als Hinweis verstand, mich nicht noch weiter nach seinem derzeitigen Aufenthaltsort zu erkundigen. Um jegliche Diskussion zu vermeiden, wechselte er das Thema.
»Wie war Dons Beerdigung?«
»Nicht so schön wie Jacks. Himmelherrgott, du hättest sehen sollen, wie viel Essen die Leute mitgebracht haben.«
»Leute bringen immer zu viel Essen zu einem Leichenschmaus mit. Wenn sie den Blick auf den Kirschkuchen gerichtet halten können, fühlen sie sich weniger betreten.«
»Wie ich.« Ich lachte. »Und es war Limettenkuchen.«
»Wann hast du eigentlich dein nächstes Date?«
»Nicht im Laufe des nächsten Jahres, dank Dons tragischem und vorzeitigem Ableben.«
»Ach?«
»Ja, mein Vater hat gesagt, es sei Sitte, dass die Verlobte ein Jahr lang trauert. Also 365 Tage lang keine Dates mehr für mich.«
»Die Verlobte. Das ist der Wahnsinn, Fi.«
»Sean, ist alles in Ordnung?«
»Ich muss mich um ein paar Dinge kümmern. Ich melde mich bei Gelegenheit.« Sean legte auf. Er entschuldigte sich noch nicht einmal dafür, mich versetzt zu haben.
Ein Teil von mir wollte meine Nase in das stecken, womit Sean hinter dem Berg hielt. Ein Teil von mir wollte das Zauberwort aussprechen, das es Anwälten erlaubte, Topfgucker und Geheimnishüter zu sein, ohne anschließend das Gras von unten wachsen zu sehen.
»Anwaltsgeheimnis. Möchtest du mir etwas anvertrauen, Sean?«
Doch ich kannte Sean zu gut. Er hätte jegliche Andeutung, er habe die Vertraulichkeit des Anwaltsgeheimnisses nötig, nicht zu schätzen gewusst.
Trotz des Anwaltsgeheimnisses belügen die meisten Leute ihre Anwälte. Da kommen die Halbwahrheiten ins Spiel. Größtenteils fürchten sie, dass man ihnen nicht helfen wird, wenn sie einem alles erzählen. Und sie haben recht.
»Die erste Person, die Sie in einem Fall belügt, wird wahrscheinlich Ihr Mandant sein«, sagte Dean Perry.
Erst wollte ich nach Hause gehen, doch dann trat ich auf die Straße und winkte ein Taxi herbei. Das ist eines der fantastischen Dinge an San Francisco. Es gibt überall Taxis, solange man sich in einem Viertel befindet, in dem es irgendwelche Geschäfte gibt. Und um ein Taxi herbeizurufen, muss man bloß mit dem Arm winken.
»South Beach Harbor bitte.«
Ich wusste, dass ich kein Recht hatte, meine Nase in Seans Angelegenheiten zu stecken. Aber Hello Kittys sind nun einmal neugierige Wesen. Es war unvermeidbar.
Als ich den South Beach Harbor erreichte, ging ich zu Pier E hinüber. Weil ich keinen Schlüssel besaß, konnte ich nicht dorthin gelangen, wo die Boote anlegten. Ich wartete etwa eine Minute am Tor, aber die Anlegeplätze waren wie ausgestorben. Keine Menschenseele weit und breit.
Folglich rannte ich wieder die Stufen hinauf zur Gangway mit Ausblick auf die Boote. Ich zählte bis zum dreizehnten Abschnitt, wo eigentlich The Countess angedockt sein sollte. Der Abschnitt war leer.
Mein linkes Unterlid zuckte auf einmal heftig. Ein schlechtes Omen.
Laut chinesischem Aberglauben bedeutet es, dass ein gewaltiges Fest auf einen zukommt, wenn einem das Oberlid flattert. Wenn einem das Unterlid flattert, sollte man sich vom Acker machen. Schleunigst. Dann liegt Ärger in der Luft.
»Mom, mein Lid wackelt«, sagte ich, als es zum ersten Mal passierte. Ich war in der dritten Klasse.
»Unter- oder Oberlid?«
»Unterlid.«
»Geh dir Wasser draufspritzen. Und sage ›Gott
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