Hell's Angels (German Edition)
Kofferraum aufzubrechen. Stundenlang hatte es im Lager so viel Bier gegeben, dass sich niemand Sorgen machte, es könnte zur Neige gehen, aber mit einem Mal war es alles futsch. Statt immer nur ein Bier auf einmal nahm nun jeder, der in den Wagen griff, ein Sixpack mit. Das Bunkern hatte begonnen. Es war wie ein Ansturm auf eine Bank. Binnen Minuten war der Rücksitz leer. Beim Feuer waren immer noch zwanzig oder dreißig Sixpacks aufgestapelt, aber die waren nicht zum Bunkern gedacht. Diese Büchsen wurden eine nach der anderen herausgelöst. Niemand wollte einen Ansturm auf den Gemeinschafts-Biervorrat auslösen. Das wäre ganz schlechter Stil gewesen, und wenn allzu offensichtlich gehamstert wurde, wurden diejenigen, die vorhatten, die ganze Nacht zu trinken, womöglich gewalttätig.
Zu diesem Zeitpunkt mischten sich bereits die Wirkungen diverser anderer Drogen mit jener des Alkohols, und es war nicht mehr absehbar, wie sich die einzelnen verhalten würden. Wilde Rufe und Explosionen drangen
aus der Dunkelheit, hin und wieder hörte man einen Körper in den See stürzen – ein Platschen, dann Schreie und Gestrampel im Wasser. Das einzige Licht kam vom Lagerfeuer, einem gut drei Meter breiten und anderthalb Meter hohen Haufen Baumstämme und Äste. Es beleuchtete die ganze Lichtung und ließ die Scheinwerfer und Lenker der schweren Harleys schimmern, die am Rande der Dunkelheit abgestellt waren. In dem flackernden orangen Licht war es schwierig, Gesichter zu erkennen, die sich nicht direkt vor einem befanden. Körper wurden zu Silhouetten; nur die Stimmen blieben erkennbar.
Es waren etwa fünfzig Frauen im Camp, aber fast alle waren sie old Ladys – nicht oder nur unter Lebensgefahr zu verwechseln mit »Mamas« oder »fremden Tussis«. Eine old Lady kann eine feste Freundin, eine Ehegattin oder auch nur eine derbe Nutte sein, an der ein Outlaw Gefallen gefunden hat. Wie auch immer die Beziehung aussieht – es wird davon ausgegangen, dass diese Frau vergeben ist, und solange sie nicht offensichtlich etwas Gegenteiliges bekundet, lässt man sie im Allgemeinen in Ruhe. Die Angels nehmen das ausgesprochen ernst und beharren darauf, dass es keinem ihrer Mitglieder je in den Sinn käme, einem anderen die Frau auszuspannen. Das trifft zu, allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt. Im Gegensatz zu Wölfinnen gehen old Ladys keine lebenslangen Bindungen ein. Manchmal halten sie nicht einmal einen Monat. Viele sind verheiratet, haben Kinder und leben abseits der allgemeinen Promiskuität. Andere sind Grenzfälle, die es sich halt hin und wieder anders überlegen. Sie wechseln den Partner, ohne dabei an Ansehen zu verlieren, bauen zu einem neuen Angel eine ebenso feste Beziehung auf wie zuvor mit einem anderen.
Dabei verliert man allerdings leicht einmal den Boden unter den Füßen. Wie Schönheit und Ehrlichkeit kann auch Promiskuität etwas Relatives sein – zumindest ist es bei den Angels so. Eine old Lady , die es sich allzu oft – oder auch nur ein Mal – anders überlegt, kann erleben, dass sie nun als Mama eingeschätzt wird, was bedeutet, dass sie Allgemeingut wird.
Bei jedem Angel-Treffen, groß oder klein, sind Mamas dabei. Sie reisen als Teil der Truppe mit, wie Madenhacker, wobei ihnen absolut klar ist, was von ihnen erwartet wird: Sie stehen jederzeit und in jeder Hinsicht zur Verfügung – jedem Angel, Angel-Freund oder gern gesehenen Gast, einzeln oder zu mehreren. Ihnen ist außerdem klar, dass sie jederzeit gehen können, wenn ihnen dieses Arrangement nicht mehr gefällt. Die meisten bleiben ein paar Monate lang dabei und lassen sich dann zu etwas anderem weitertreiben. Einige wenige sind seit Jahren dabei, aber diese Form der Hingabe erfordert eine fast schon übermenschliche Duldsamkeit Misshandlungen und Erniedrigungen gegenüber.
Der Begriff »Mama« ist ein Überbleibsel der ursprünglichen Redewendung »Let’s go make somebody a mama« , die später zu »Let’s go make a mama« abgekürzt wurde. Andere Brüderschaften drücken es anders aus, aber es bedeutet das Gleiche: eine Frau, die immer zu haben ist. In einem viel zitierten Abschnitt des Lynch-Berichts wird behauptet, diese Frauen würden als »Sheep« , Schafe, bezeichnet, aber ich habe nie gehört, dass ein Angel diesen Begriff gebraucht hätte. Es klingt wie die Erfindung irgendeines Polizeiinspektors mit ausgesprochen ländlich geprägten Erinnerungen.
Die Mamas sind nicht hübsch, auch wenn einige der neueren und
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