Hell's Kitchen
für die Menschen, die sonntags herkommen, wie die andere Seite eines Berges ist. Sie wissen das, und ich weiß es - und Father Love weiß es auch. Was für die Leute da draußen in den Kirchenbänken wahr ist, ist in diesem Raum eine Lüge, und was hier wahr ist, ist dort draußen eine Lüge.«
»Bei allem Respekt«, sagte Dumaine, »und ich behalte dabei durchaus im Auge, was Sie für uns durchgemacht haben, Ihren Mut und alles, und angesichts der Tatsache, daß Sie wie Father Love selbst ein belesener Mann sind - nun, ich bin schon überrascht, daß Sie keinen Respekt für den großen Unterschied zwischen Fakten und Wahrheit besitzen.«
Ich dachte: schon wieder eine übergroße Wertschätzung der Wahrheit und all dieses Zeugs. Aber ich sagte: »Und was wäre dann bitte dieser feine Unterschied?«
»Tatsache für unsere Gemeindemitglieder hier ist, daß sie arm sind, wie Sie sagen. Aber das ist nicht gleichzeitig ihre Wahrheit. Ihre Wahrheit ist vielmehr so reich wie dieser Raum, in dem wir uns gerade befinden.«
»So was erzählt Father Love ihnen im Tausch gegen ihre Pennies?«
»Es ist die Wahrheit, so wie er sie sieht, und jeden Sonntag sind hier Menschen, die wissen, daß es die Wahrheit ist -gleichgültig, was auch immer die ärmlichen Tatsachen in ihren individuellen Leben sein mögen. Ich glaube, daß dies die Wahrheit ist.
Können Sie das verstehen? Und wenn Sie es verstehen, würden Sie dann sagen, daß es auch nur einen Furz anders ist als das, was man Ihnen in Ihrer katholischen Kirche beigebracht hat?«
Ich lächelte und sagte: »Roy, wie wär’s, wenn Sie ein Gläschen mit mir trinken würden?«
»Ich trinke nicht, danke.«
Dann fragte Roy: »Was wissen Sie überhaupt schon über Menschen wie uns? Was wissen Sie davon, morgens mit Magenschmerzen aufzuwachen, weil Sie immer noch hungrig vom voraufgegangenen Abend sind? Was wissen Sie von Hoffnungslosigkeit? Und davon, daß Menschen Sie mit eiskalten Blicken ansehen, weil sie nichts anderes sehen können als Ihr hoffnungsloses, beschissenes schwarzes Gesicht und Ihren Hunger?«
»Ich kann Ihnen sagen, daß ich genug weiß, um keine vorschnellen Annahmen über einen Menschen zu machen«, sagte ich. »Und ich kann Ihnen sagen, daß ich schon vor langer Zeit in Hell’s Kitchen, woher ich komme, gelernt habe, daß man nicht dieselbe Mama und denselben Papa haben muß, um Brüder zu sein. Wie war’s da, wo Sie herkommen, Roy?«
Dumaine antwortete nicht.
Ich kippte den letzten Schluck von meinem Scotch und sagte: »So, da ich ein belesener Mann aus Hell’s Kitchen bin und außerdem auch noch Alkohol trinke, weiß ich aus eigener Erfahrung bestens Bescheid über Hunger und Hoffnungslosigkeit.«
Dann stand ich auf und öffnete die Papiertüte und warf einen Blick hinein. Alles war da, einschließlich der Schuhe. Meinen .38er hatte ich natürlich behalten, und meinen Hut und Mantel hatte ich bei meinem ersten Besuch in der Bibliothek zurückgelassen.
Also ging ich rüber in Watermans Ankleideraum, um den Bademantel abzustreifen und wieder meine eigenen Sachen anzuziehen, die, um die Wahrheit zu sagen, noch nie sauberer gewesen waren.
Als ich wieder draußen vor der Kirche war, entdeckte ich einen uniformierten Lieutenant in einem Zivilfahrzeug vom Twenty-eighth, das im Leerlauf auf der Lenox Avenue hielt und die Zufahrt zur Gasse blockierte, in der auf Waterman geschossen worden war. Ein paar Nachzügler von der Spurensicherung stampften in ihren Regenmänteln am Rand des Tatortes herum.
Es gab immer noch ein paar Flecken Schnee, die unübersehbar leuchtend rot waren. Jemand, der nicht wußte, was hier vor einiger Zeit passiert war, hätte vielleicht gedacht, es wäre nur eine Wagenladung italienisches Kirscheis verschüttet worden. Das liegt daran, daß man normalerweise nicht automatisch denkt, irgendein Prediger wäre direkt neben seiner eigenen Kirche niedergeschossen worden, nicht mal in New York, nicht mal hier in Harlem; ganz sicher nicht, wenn davon ausgegangen werden konnte, daß der Prediger sowohl Gott als auch die SCUM Patrol auf seiner Seite hatte.
Dann erinnerte ich mich wieder an die Telefonate, die ich schon bald machen und was mich das kosten würde. Und bekam Kopfschmerzen; nicht sehr schlimm, nicht so, als würden Drei-Zoll-Nägel durch den Knochen gejagt, aber auch wieder stark genug, um mir wegen des Fehlers zuzusetzen, mich nicht für die friedliche kleine Karriere bei Sears Roebuck irgendwo draußen in einem
Weitere Kostenlose Bücher