[Henderson_Charles]_Todesfalle-Die_wahre_Geschicht(Bookos.org)
in den mittleren Jahren, faßte das Kinn des Mädchens, neigte mit der Rechten das Gesicht nach rechts und nach links und musterte es prüfend. Dann wandte sie sich ab, nahm eine gewachste Schnur aus einem Kasten auf dem kleinen Tisch und wickelte sich die Enden um Daumen und Zeigefinger beider Hände.
Dann zog sie die Schnur straff und begann, sie auf den Wangen des Mädchens, unter dem Kinn und auf der Stirn auf und ab zu rollen. Dabei wurden die feinen Gesichtshärchen von der Schnur erfaßt und ausgezupft.
Hathcock war so weit weg, daß er nur erkennen konnte, wie die Frau etwas über das Gesicht des Mädchens rieb. Selbst aus dieser Entfernung war es offensichtlich, daß sie ihre Nachbarin irgendeiner kosmetischen Behandlung unterzog.
Als sie fertig war, strich sie dem jungen Mädchen über den Kopf und ging in die Hütte zurück. Das Mädchen setzte den Strohhut wieder auf und ging über einen Pfad an einem Reisfelddamm entlang zu den anderen Hütten und Schuppen. Die Stunden vom Morgen bis zum frühen Nachmittag schleppten sich träge dahin, während Hathcock weiter die Hütten und Hügel unter seinem Versteck beobachtete. Er sah mehrere bunte Hühner mit langen grünen Schwänzen und orangefarbenen Halskrausen nahe dem großen Heuhaufen herumstolzieren und im Dreck scharren. Die an dem im Hof liegenden Müll herumpickenden und -kratzenden Hühner faszinierten ihn und fesselten seine Aufmerksamkeit.
»Bingo!« sagte er plötzlich zu sich selbst und griff nach seinem Gewehr, das er rechts vom Beobachtungsfernrohr abgelegt hatte. Während er beobachtete, wie die Hühner im Schmutz nach winzigen Futterstückchen suchten, waren zwei Männer hinter den hohen Bäumen links von der Hütte hervorgeschlüpft und schnell durch die Tür ins Innere gelaufen. Beide trugen dunkelgrüne Uniformen und hielten lange Gewehre in den Händen.
Als sie wieder auftauchten, hatten sie die Hemden ausgezogen und die Gewehre im Inneren der Hütte abgestellt, wo sie nicht mehr zu sehen waren. Ein Mann klopfte der Frau auf die Schulter und setzte sich auf den Hocker, während der andere sich daneben auf den Boden kauerte und sich von dort aus, lebhaft mit Kopf und Händen gestikulierend, mit den anderen unterhielt.
Die Männer waren untersetzt und muskulös, und Hathcock war sicher, daß sie zur NVA gehörten. Auf Grund ihrer langen Gewehre nahm er an, daß es Heckenschützen waren, möglicherweise sogar dieselben, die den Gunnery Sergeant getötet hatten.
Mit einem Blick durch das Zielfernrohr schätzte er die Entfernung ab, dann drehte er am Verstellknopf, um den Höhenwinkel zu vergrößern. Er sah die Mirage vom Reisfeld aufwogen, beugte sich nach links und schaute durch das Beobachtungsfernrohr, um die Hitzewellen besser erkennen zu können.
Mit einer Vierteldrehung des hinteren Okulars nach links stellte er die Mirage scharf und sah, daß sie sich zuerst schräg nach rechts, denn gerade nach oben und schließlich nach links bewegte. »Wedelt wie ein Fischschwanz«, sagte er zu sich. Auf mehr als einen Kilometer machte der wechselhafte, wenn auch nur sehr schwache Wind diesen Schuß zu einem der schwierigsten, den ein Scharfschütze wagen konnte.
Hathcock wartete, bis die Mirage sich weit nach links bewegte, und richtete dann das Fadenkreuz seines Zielfernrohrs auf die Brust des Mannes, der auf dem Hocker saß und sich gerade von der Frau die Haare schneiden ließ. Er atmete ein und wieder aus, dann drückte er den Abzug der Winchester durch.
Als der Schuß krachte, flatterte im dichten Gebüsch am Hang unterhalb von Hathcock ein Schwarm dunkelbrauner und schwarzer Vögel auf. Der Heckenschütze zog den Verschluß zurück, führte eine zweite Patrone ein und sah, wie das erste Geschoß in das dicke Strohdach der Hütte schlug.
Die Frau und die beiden Männer hörten den Schuß auf dem Dach auftreffen und sprangen sofort hinter den großen Haufen aus Stroh und Gras in Deckung. Sie wußten, daß der Heuhaufen sie vor dem Schützen auf dem Hügel verbergen würde und hofften, er würde auch seine Kugeln aufhalten.
Ehe Hathcock auf einen der drei zielen konnte, waren sie auch schon verschwunden. »Verdammt«, flüsterte er, drehte den Knopf an der rechten Seite seines Zielfernrohrs um vier Stufen weiter und verschob damit seinen nächsten Schuß um zwei Strich nach unten, so daß er mehr als sechzig Zentimeter tiefer einschlagen würde als der letzte.
»Nun«, sagte er sich, »einen Versuch ist es wert, was habe ich schon zu verlieren?«
Weitere Kostenlose Bücher