Henkerin
sagte er, als ihre Blicke sich trafen. Augenscheinlich hatte er ihre Anspannung bemerkt. Er reichte ihr einen kleinen Beutel. »Nimm das. Es wird dir die erste Zeit erleichtern.«
Melisande schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hand. Sie war nicht gekommen, um Geld zu erbitten. Im Gegenteil, Geld war das Einzige, an dem es ihr nicht mangelte. Doch als der Braumeister den Beutel nicht sinken ließ und sie Enttäuschung in seinen Augen las, streckte sie zögernd die Hand aus. Er wollte wirklich helfen, und seine Gabe nicht anzunehmen wäre undankbar gewesen und hätte den Freund zutiefst verletzt.
Melisande verneigte sich zum Zeichen des Dankes und zog eine Rolle mit Pergamenten aus ihrem Ärmel, die sie Henrich reichte.
»Ah, meine Bibel.« Er nahm die Blätter entgegen, legte sie auf den Tisch und strich sie glatt. »Ich hoffe, die Worte des Herrn waren dir und Raimund in schweren Stunden ein Trost.«
Melisande nickte und verneigte sich erneut. Dann trat sie auf die Tür zu, zeigte an, dass sie sich beeilen müsse. Meister Henrich nickte, hob aber die Hand zum Zeichen, dass er noch etwas mitteilen wollte.
»Ich billige deine Entscheidung nicht, Junge«, sagte er ernst. »Davonzulaufen kommt einem Schuldeingeständnis gleich. Aber ich halte dich nicht von deinem Vorhaben ab. Gehab dich wohl! Gott sei mit dir! Ich bin sicher, du wirst deinen Weg finden. Und wenn es dir möglich ist, lass mich wissen, wie es dir ergangen ist. Damit würdest du einem alten Mann eine große Freude bereiten.« Meister Henrich lächelte und gab ihr mit einer kleinen Geste den Weg frei.
Melisande stieg die Treppe hinunter. Sie hörte, wie Meister Henrich tief seufzte und wenig später zurück in seine Schlafkammer schlurfte. Sie hielt den Riegel der Tür bereits in der Hand, als ein anderes Geräusch sie zusammenfahren ließ. Jemand näherte sich von hinten. Das konnte nicht Meister Henrich sein.
Melisande wollte den Riegel zurückschieben und aus dem Haus stürzen, doch in ihrer Hast bekam sie ihn nicht richtig zu greifen.
»Habe ich doch richtig gehört.« Mathilde räusperte sich vernehmlich. »Mein Gemahl hat zwar in vielen Dingen eine recht unkonventionelle Einstellung, doch zu dieser Stunde empfängt selbst er gewöhnlich keinen Besuch.«
Melisande wagte nicht, sich umzudrehen. Noch, so vermutete sie, wusste Henrichs Gattin nicht, dass nicht nur die Stunde, sondern auch der Besucher mehr als ungewöhnlich war. Sie war Mathilde nur einige Male kurz begegnet, wenn sie Raimund auf einem seiner wenigen Besuche begleitet hatte, und sie traute der frommen, schweigsamen Frau nicht über den Weg.
Sie hörte, wie Mathilde näher trat, sah, wie sie ihr Talglicht anhob. Eine Weile geschah nichts. Endlich wagte Melisande einen Blick. Mathilde war immer noch wunderschön, auch wenn sie inzwischen mehr als dreißig Sommer zählte, doch im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Kummer darüber, dass sich kein Nachwuchs einstellen wollte, tief in ihr Gesicht gegraben. In ihrem Blick lag nichts Feindseliges, sondern Überraschung.
Schließlich zischte Mathilde »Komm mit!« und ging voran in die Küche, die im hinteren Teil des Hauses lag. Melisande blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
In der Küche stellte Mathilde das Licht auf dem Tisch ab und musterte sie argwöhnisch. »Was machst du nachts in meinem Haus?«
Melisande wusste nicht, was sie erwidern sollte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, ihrer eigenen Mutter gegenüberzustehen, nachdem diese sie dabei erwischt hatte, wie sie in der Speisekammer Beeren stibitzte. Zögernd zog sie die Wachstafel hervor und hielt sie Mathilde hin. Sie wusste nicht einmal, ob die Frau lesen konnte, aber was sonst hätte sie tun sollen?
Mathilde entzifferte die Schrift und sagte lange nichts. Dann deutete sie auf den Schemel, der bei dem Tisch stand. »Setz dich, und warte. Ich bin gleich zurück. Und untersteh dich, dich ohne meine Erlaubnis hier wegzubewegen.«
Melisande ließ sich auf den Schemel sinken. Was für eine schwachsinnige Idee, Meister Henrich mitten in der Nacht aufzusuchen! Sie hätte ihm einfach eine kurze Nachricht schreiben sollen. Nur weil sie ihn unbedingt noch einmal hatte sehen wollen, saß sie jetzt in der Falle. Sicherlich würde Mathilde zuerst ihrem Gatten die Hölle heißmachen, weil er mitten in der Nacht den Henker in seinem Hause empfing und ihm auch noch zur Flucht verhalf, und danach den Büttel rufen, damit der Melchior gleich in den Kerker warf. Ob sie
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