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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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sich einfach davonschleichen sollte? Nein, wenn sie jetzt die Flucht ergriff, würde Mathilde ganz sicher sofort Alarm schlagen, wenn sie aber wartete, gelang es Henrich vielleicht, seine Frau zu beruhigen.
    Schneller als erwartet war die Hausherrin zurück, eine Rolle Pergament in der Hand. »Mein Bruder ist Herr eines Fronhofs in der Nähe von Urach«, erklärte sie unvermittelt. »Ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm, aber als Kinder standen wir uns sehr nahe.« Sie warf einen Blick auf das Pergament. »Dies ist ein Schreiben, mit dem ich ihm die Überbringerin als eine tüchtige, zuverlässige Magd anempfehle, die auch etwas von Heilkunde versteht, und ihn bitte, sich ihrer anzunehmen. Mein Bruder ist ein frommer, gottgefälliger Mann, er wird dich in seinem Haushalt aufnehmen. Das Leben auf dem Hof ist hart und voller Entbehrungen, aber du wirst sicher sein. Dort wird dich niemand finden.« Sie hielt kurz inne. »Der Hof liegt auf einer Hochebene oberhalb der Landstraße nach Ulm, kurz vor Urach. Ein Dorf ist in der Nähe, das Hülben heißt. Wenn du auf Felder stößt, ein paar Meilen vor der Stadt, frag nach dem Hof des Paulus Weigelin, die Bauern werden dir den Weg weisen.«
    Melisande starrte Mathilde ungläubig an. War das die Frau, die sie als misstrauische, allzu fromme Dienerin Gottes kennengelernt hatte? Noch mehr allerdings verwirrte sie, dass Mathilde ihr vorgeschlagen hatte, sich als Magd zu verdingen.
    »Ich weiß, wovor du dich am meisten fürchtest.« Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht der Brauersgattin. »Und deine Furcht ist nicht unbegründet. Deshalb helfe ich dir.«
    Noch immer begriff Melisande nicht.
    Mathilde drückte ihr die Schriftrolle in die Hand. »Es bedarf einer Frau, eine andere Frau zu erkennen«, erklärte sie. »Schon lange weiß ich, dass unter dem Gewand des Henkers kein Mann steckt, möge er auch noch so jung und schmächtig sein. Ich kenne dein Schicksal nicht, aber ich ahne, dass du Schreckliches durchgemacht hast. Weshalb sonst solltest du dich ausgerechnet im Gewand des Scharfrichters verbergen. Hab keine Sorge, bei mir ist dein Geheimnis sicher. Und jetzt spute dich, es wird bald Tag!«
    Tränen schossen Melisande in die Augen. Am liebsten hätte sie die andere vor Dankbarkeit umarmt, doch sie trug noch immer die Kleidung des Henkers, und sie wusste nicht, ob Mathilde nicht angewidert zurückschrecken würde. »Danke«, murmelte sie leise.
    Mathildes Lächeln wurde breiter. »Ahnte ich doch, dass zu diesem zarten Gesicht auch eine wohltönende Stimme gehört. Wie dunkel sie klingt, ich hätte eher eine hohe erwartet. Nun ja, vielleicht hat sich dein Körper schon daran gewöhnt, ein Mann zu sein.«
    Melisande senkte den Blick, hob ihn aber sofort wieder. Aus Gewohnheit griff sie zu ihrer Wachstafel, dann fiel ihr ein, dass das nicht nötig war. »Warum?«, fragte sie.
    Mathilde lächelte traurig. »Wir sind so etwas wie Schwestern im Schicksal. Allerdings hast du noch die Möglichkeit, zu werden, was du am meisten begehrst: eine geachtete Frau, mit Mann und Kindern. Das möchtest du doch, habe ich recht?«
    Melisande nickte.
    »Wenn Gott es will, wird es so geschehen. Ich kann mein Schicksal nicht mehr ändern. Ich wollte dem Herrn dienen und wurde stattdessen verheiratet. Also fügte ich mich Gottes Willen und gelobte, ihm zur Ehre viele Kinder zu gebären, aber mein Leib ist unfruchtbar. Mein Leben ist sinnlos und leer, doch ich kann anderen helfen, damit ihnen ein ähnliches Los erspart bleibt. Für dich ist es noch nicht zu spät.«
    Melisande wollte etwas sagen, aber Mathilde hob die Hand. »Geh jetzt. Du solltest einen guten Vorsprung haben, wenn die feinen Ratsherren merken, dass ihnen der Henker abhandengekommen ist.«
***
    Dietrich Vulpes verlagerte das Gewicht seines Körpers auf das andere Bein. Seit Stunden hielt er Wache vor dem Schelkopfstor, und obgleich bislang alles still geblieben war, war er nicht einen Augenblick unaufmerksam gewesen. Wenn der Nachtwächter ihn auf seiner Runde passierte, drückte er sich so tief in die Hausecke, dass er beinahe mit der Mauer verschmolz, und genauso verfuhr er, wenn ein verspäteter Gast aus dem »Alten Landmann« vorbeitorkelte. Der »Alte Landmann« lag ganz in der Nähe des Tores und war die schäbigste Spelunke in Esslingen, in der sich auch nach der Sperrstunde noch allerhand Gesindel traf, doch um diese Zeit war es selbst hinter der mächtigen Eichentür dieser Wirtsstube ruhig

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