Henkerin
den Hals trug, legte es in seine leblosen Hände, faltete sie und sprach ein kurzes Gebet.
***
Wendel trat vor die Tür in den kalten, nebeligen Herbstmorgen. Unter ihm, kaum erkennbar unter der Decke aus Dunst, lag Reutlingen mit seinen vertrauten Gassen und Winkeln, dem Haus seines Vaters, dem Hof, der Kelter und dem Weinkeller. Seine Heimat und doch nicht mehr sein Zuhause.
Auf dem Weg von Urach nach Reutlingen vor zwei Wochen hatte er viel nachgedacht. Die kurze Freundschaft mit Merten, dessen plötzliches Verschwinden. Beides hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Niemals hätte er gedacht, dass er einen Menschen, den er erst so kurz kannte, so schmerzlich vermissen würde. Die Ereignisse in Urach, das unerklärliche Fehlverhalten des Henkers und de Bruce’ erfolgreiche Flucht hatten ihn seltsam unberührt gelassen. Das Schicksal des Grafen der Adlerburg war ihm mit einem Mal gleichgültig.
Als die Stadtmauer von Reutlingen am Abend vor ihnen aufgetaucht war, hatte Wendel eine Entscheidung getroffen. Er war sich darüber im Klaren gewesen, dass er seine Eltern bitter enttäuschen würde, dass nicht nur sie, sondern eine ganze Reihe Menschen in Reutlingen verletzt und zornig sein würden, doch er war fest entschlossen. Gleich am folgenden Morgen hatte er Engellin aufgesucht und mit ihr gesprochen. Sie hatte seinen Entschluss, den er ihr stockend vortrug, erstaunlich verständnisvoll aufgenommen. Sie habe sich so etwas gedacht, hatte sie mit leiser, enttäuschter Stimme erklärt, und sie zürne ihm nicht, sondern wünsche ihm alles Gute für die Zukunft.
Engellins Vater hatte weniger Verständnis gezeigt. Er hatte gedroht, Wendel vor Gericht zu bringen. Er verlangte als Entschädigung das doppelte Kranzgeld und eine öffentliche Erklärung, dass es allein seine Schuld sei und dass seine Tochter sich kein Fehlverhalten habe zu Schulden kommen lassen.
Erhard Füger hatte zuerst kein einziges Wort gesagt, als Wendel ihm eröffnet hatte, dass er Engellin nicht heiraten werde. Dann hatte er auf die Tür gezeigt, ohne seinen Sohn anzusehen. »Dieses Haus ist nicht mehr dein Heim«, hatte er gesagt. »Ich will dich nie wiedersehen.«
Wendel hatte versprochen, das Geld aufzubringen, das der Braut als Entschädigung zu zahlen war, und öffentlich alle Verantwortung auf sich zu nehmen. Damit hatte er zwar die Familie Urban besänftigt, nicht aber seine Eltern. Es tat ihm weh, ihnen solches Leid zuzufügen, doch er vertraute fest darauf, dass sie ihm eines Tages verzeihen würden, auch wenn sie seine Entscheidung nicht verstanden.
Jetzt wohnte er in einer winzigen Hütte auf der Achalm. Sie stand inmitten der Rebstöcke und wurde während der Lese von einem Huser bewohnt, der die Trauben bewachte. Im Winter stand sie leer. Die Familie, die diesen Teil des Weinbergs bewirtschaftete, war die, deren kleinem Sohn Wendel das Leben gerettet hatte. Täglich kam der Junge mit seinem älteren Bruder zu ihm herauf und brachte ihm einen Laib Brot und einen Krug Wein. Manchmal waren auch ein Stück Käse oder eine Scheibe Schinken dabei. Der Huser hätte ihn gern hin und wieder zum Essen eingeladen, doch er wagte es nicht, den Geächteten zu sich nach Hause zu bitten und damit den Zorn seines Herrn auf sich zu ziehen.
Wendel fuhr mit den Händen in die Regentonne, die neben der Hütte stand, und wusch sich mit dem eisigen Wasser das Gesicht. Er war zuversichtlich, dass sich die Wogen bald glätten würden. Spätestens bei Wintereinbruch würde seine Mutter zu ihm heraufkommen und nachsehen, ob ihm etwas fehlte. Bei jedem Gewitter oder Schneesturm würde sie ihrem Gatten in den Ohren liegen, voller Sorge um ihren einzigen Sohn, der ganz allein dort draußen in der Hütte hauste, und irgendwann im Frühjahr würde sie ihn so weit haben. Das zumindest hoffte Wendel, auch wenn es Tage gab, an denen er glaubte, sein ganzes Leben verpfuscht zu haben. Dennoch bereute er seine Entscheidung keinen einzigen Moment, auch nicht in den dunkelsten Stunden. Er zog es vor, ein aufrechtes Leben in Einsamkeit zu führen, als für alle Zeit mit einer Lüge zu leben. Und auch wenn Engellin im Moment traurig und verletzt war, eines Tages, davon war er überzeugt, würde sie ihm für seine Offenheit dankbar sein.
Wendel ging zurück in die Hütte. Ein Strohsack mit einem Schaffell als Decke und eine kleine Truhe waren das einzige Mobiliar. Er setzte sich auf die Truhe, hob den Kanten Brot, den er noch übrig hatte, vom Boden auf und wickelte ihn
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