Henkerin
aus dem Leinentuch. Aus dem Krug goss er einen Schluck Wein in seinen Becher. Er tunkte das harte Brot in den Wein, um es aufzuweichen.
Während er kaute, überlegte er. Schon mehrfach hatte er mit dem Gedanken gespielt, in einer anderen Stadt sein Glück zu suchen. Er war ein erfahrener Karcher, und er verstand etwas vom Weinbau, sicherlich konnte man einen Mann wie ihn vielerorts gebrauchen. Allerdings würde er wohl nur als Knecht eine Anstellung finden, ein Bürger konnte er nicht einfach so werden. Es sei denn, er ging nach Esslingen. Dort schuldete man ihm Wiedergutmachung. Vielleicht hatte der Rat ein so schlechtes Gewissen, dass er ihm ohne viele Umstände die Erlaubnis erteilte, einen Weinhandel zu eröffnen. Er würde Tag und Nacht arbeiten, und in ein paar Jahren würde er nicht als Bittsteller, sondern als gemachter Mann in einem Wagen vor seinem Elternhaus vorfahren, seinem Vater das Zehnfache des Kranzgeldes überreichen, das er an den alten Urban hatte zahlen müssen, und mit ihm Frieden schließen.
Wendel seufzte. Ein schöner Traum.
Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken. Das Schlagen von Hufen. Hastig sprang er auf und trat vor die Tür. Jemand kam die Achalm herauf. Konnte es sein, dass die Wut seiner Eltern bereits verraucht war, dass seine Mutter unterwegs war, um nach ihm zu sehen?
Eine einsame Gestalt auf einem Schimmel ritt auf ihn zu. Es handelte sich in der Tat um eine Frau. Doch es war nicht seine Mutter, sondern eine Fremde. An ihrer Kleidung und an ihrer Haltung erkannte er, dass es sich um eine vornehme Frau handeln musste. Sie trug ein Gewand aus rotem Samt, das an den Seiten locker geschnürt war. Die Ärmel ihres Surcots reichten nur bis zu den Ellbogen und endeten dort in langen spitzen Zipfeln. Unter der seitlichen Schnürung und an den Unterarmen war das Unterkleid aus dunkelgrüner Seide zu erkennen. Die Reitstiefel waren aus feinstem Leder und liefen vorne modisch spitz zu.
»Seid Ihr Wendel Füger?«, fragte die Fremde.
Erst jetzt blickte Wendel ihr ins Gesicht. Der Anblick raubte ihm fast den Atem. Ihre Augen leuchteten blau wie der Sommerhimmel, die zarte blasse Haut wurde gerahmt von feuerrotem Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten und am Kopf festgesteckt war. Doch es war nicht ihre Schönheit, die sein Herz hämmern ließ. Es war die unerklärliche Vertrautheit, die er bei ihrem Anblick empfand, das Gefühl, diese Frau seit Langem zu kennen.
Die Unbekannte lächelte. »Was ist denn los? Hat es Euch die Sprache verschlagen?«
Er räusperte sich. »Bitte verzeiht meine Unhöflichkeit. Es kommt nicht häufig vor, dass ich hier oben solch bezaubernden Besuch erhalte.«
»Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet«, erinnerte sie ihn. »Seid Ihr Wendel Füger, der Karcher aus Reutlingen?«
»Der bin ich«, bestätigte Wendel. Er versuchte, gegen das Rauschen in seinem Kopf anzureden, gegen den Schwindel, der ihm das Gefühl gab, leicht zu sein wie eine Daune im Frühlingswind. »Allerdings seid Ihr nun mir gegenüber im Vorteil, gnädige Frau. Ihr wisst, wer ich bin, doch ich kenne Euren Namen nicht.«
Sie neigte den Kopf. »Wisst Ihr denn wirklich nicht, wer ich bin?«
Mit einem Mal erkannte er die Ähnlichkeit. »Ihr seid ... Ihr seid verwandt mit Merten de Willms?«
Wieder lächelte sie. »Verwandt? Ja, so könnte man es nennen. Ich bin, nun, sagen wir einfach, ich bin seine Schwester. Seine Zwillingsschwester.«
»Geht es ihm gut?«, fragte Wendel. »Ich war in Sorge, weil er so plötzlich verschwunden ist.«
»Es geht ihm gut. Sehr gut sogar. Leider musste er ... verreisen, weit weg. Doch dafür hat er mich zu Euch geschickt.«
»Verreisen? Aber wohin denn?«
»Was spielt das für eine Rolle? Er ist fort. Und ich bin hier.«
»Und Ihr habt mir noch immer nicht Euren Namen verraten.«
Sie schien zu überlegen. »Melissa«, sagte sie dann. »Melissa de Willms.«
»Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen, Melissa de Willms.«
»Ganz meinerseits, Wendel Füger.« Sie saß ab und ging auf ihn zu. »Ich habe gehört, Ihr seid bei Eurer Familie in Ungnade gefallen?«
Er senkte den Kopf. »Ich habe meine Eltern sehr enttäuscht. Doch das wird sich geben, eines Tages werden sie mir verzeihen.« Er deutete auf die Hütte. »Leider ist mein Heim sehr bescheiden, sonst würde ich Euch hereinbitten. Ich habe nicht einmal etwas, das ich Euch zur Erfrischung anbieten könnte.«
»Ich brauche keine Erfrischung, Wendel.«
»Kann ich sonst etwas für Euch
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