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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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schließlich war er der städtische Verwalter des Frauenhauses und sorgte dafür, dass alles mit rechten Dingen zuging und die Stadt das Geld erhielt, das ihr zustand. Aber das wollte er nicht. Im Gegenteil, er fühlte sich für die Frauen in seiner Obhut verantwortlich und versuchte, sie vor allzu brutalen Männern zu beschützen. Einmal hatte er einem Kerl beide Arme gebrochen, weil er im Suff die blonde Magdalena halb totgeschlagen hatte. Gegen ein paar Kratzer war nichts einzuwenden, auch den einen oder anderen blauen Fleck ließ Raimund durchgehen. Aber eine Hure, die wochenlang nicht arbeiten konnte und die er auch noch versorgen musste – das ging zu weit.
    Am Schanktisch standen die Meister Jacop, Anton und Wilhelm. Dem Ersteren sah man sein Handwerk unschwer an. Er schien ergraut, aber es war nur der Marmorstaub, den er noch nicht ausgekämmt hatte. Die beiden anderen trugen ihr Handwerkszeug bei sich: Glättaxt, Hobel, Maßwerk und Pergamentrollen, auf denen sie ihre Gewerke planten. Davon verstand Raimund nichts. Er vermochte zwar, so weit zu zählen, dass ihn niemand betrügen konnte. Aber wie man die Stärke eine Balkens berechnete, damit er ein Dach trug – das war ihm so unverständlich wie die lateinischen Psalmen in der Kirche, die er nur auswendig nachplapperte, ohne den Sinn zu verstehen.
    Die drei tranken Wein, unterhielten sich über die Geschäfte, die gut gingen, waren sich einig darin, dass die jungen Burschen nichts als Unsinn im Kopf hatten und dass das in ihrer Jugend ganz anders gewesen sei. Dass die Preise in den Himmel schossen und sie nächstes Jahr mehr verlangen würden für ihre Arbeit, damit sie nicht bald am Hungertuche nagen mussten. Und natürlich, dass die Geschlechter wie seit hundert Jahren versuchten, den Zünften ihre mühsam erworbenen Rechte wieder abzujagen, und dass man dagegen vorgehen müsse.
    Raimund nahm einen tiefen Zug, jeder Schluck bescherte ihm mehr Frieden. Die wirren Bilder, die in seinem Hirn spukten, verschwanden, und wohliger Nebel füllte seinen Kopf aus.
    Die Tür schlug auf, krachte gegen die Wand. Auf der Schwelle stand Marx von Bergstein, ein Tuchmacher. Wie ein Schlachtross schnaufte er, blickte sich ein paarmal hektisch um, stürzte zum Schanktisch, schlug mit der Faust darauf und flüsterte dem Wirt ein Wort zu. Dennoch konnten es alle hören; die Gespräche waren verstummt, keiner bewegte sich, selbst die Mägde hatten mitten in der Bewegung innegehalten. Marx war bekannt in der Stadt und in der Schenke allemal. Angesehen war er ebenfalls, ein würdiger Vertreter seiner Zunft und wahrscheinlich irgendwann einmal Nachfolger des Zunftmeisters.
    »Wein!«
    Der Wirt knallte einen Becher auf den Tisch und goss Wein hinein. Noch bevor er gefüllt war, griff Marx zu und leerte ihn. »Alle tot. Alle.« Marx atmete stoßweise.
    Alle außer Raimund standen langsam auf und scharten sich um den Tuchmacher. Raimund fragte sich, warum die Glocken noch nicht Sturm läuteten. Marx musste das Gemetzel entdeckt und gemeldet haben. Oder war er tatsächlich zuerst hierhergekommen?
    Im selben Moment schlug die große Glocke von St. Dionys. Einmal. Dann noch einmal. Dann folgten die kleinen Brüder und Schwestern wild durcheinander. Die Menschen, die gerade noch Marx angestarrt hatten, verließen fluchtartig die Schenke. Marx blieb zurück, kippte sich den nächsten Becher in den Hals.
    »Wer ist tot?«, fragte Raimund leise, ohne den Kopf zu heben.
    Marx setzte den Becher ab, wischte sich den Mund und drehte sich zu Raimund. »Bei der Heiligen Jungfrau Maria. Die Wilhelmis. Die ganze Familie. Und alle, die bei ihnen waren. Soldaten, Ritter, Fuhrleute, Diener, alle. Im Hohlweg vor dem Aufgang zu den Fildern. Das muss der Teufel gewesen sein. Sie haben Beata Wilhelmis das Kind aus dem Leib gerissen.« Marx bekreuzigte sich.
    Raimund lief es eiskalt über den Rücken. De Bruce’ Leute mussten Beata zu den anderen Opfern in den Hohlweg geschafft haben. Also waren sie doch noch einmal zurückgekehrt. Vermisste denn niemand Melisande?
    »Habt Ihr Euch davon überzeugt, dass alle tot sind?« Raimund bereute die Frage schnell, vor allem den Ton, in dem er sie gestellt hatte. Nicht unterwürfig, wie es sich für einen Mann seines niederen Ranges ziemte, sondern fordernd wie ein Richter.
    Marx’ Augen nahmen einen gefährlichen Glanz an. »Geht dich das irgendetwas an, Henker? Wie redest du überhaupt mit mir? Ich habe ohnehin schon zu viel gesagt. Ich muss los.« Marx warf

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