Henkerin
eine Münze auf den Tisch und rannte aus der Schenke.
Raimund erhob sich langsam, nickte dem Schankherrn zu, trat auf die Gasse und ließ sich mit der Menge zum Ausrufer am Fuß der Kirchentreppe treiben.
Die Glocken schwangen aus, der letzte Ton verhallte und damit auch das Gemurmel der Menschen. Die Fanfare erklang, Schultheiß Johann Remser trat zwischen den Ratsherren hervor, die Stirn gefurcht, seine schwere goldene Kette schwankte hin und her, als wolle sie seine Empörung ausdrücken.
Der Ausrufer warf sich in Positur. »Bürger von Esslingen! Höret, was Euer Schultheiß Euch zu sagen hat!« Er verbeugte sich und trat einige Schritte zurück.
»Bürger von Esslingen!« Remsers Worte hallten von den Häusern wider. Seinen kräftigen Bass hätte man bei einem Bären von Mann erwartet, nicht aber bei dieser kleinen rundlichen Gestalt mit den feisten Backen und den Schweinsäuglein. »Ein ungeheures Verbrechen ist begangen worden, wie es in der Geschichte unserer gottgefälligen Stadt noch nicht vorgekommen ist. Die Familie des ehrenwerten Esslinger Bürgers, des Tuchhändlers Konrad Wilhelmis, ist niedergemetzelt worden mit allen, die zu ihrem Haushalt gehörten. Man hat ihnen am Hohlweg zu den Fildern aufgelauert und sie abgeschlachtet wie Vieh.«
Remser hielt inne, ein Raunen ging durch die Menge, aber schnell herrschte wieder absolute Ruhe. »Ich habe angeordnet, eine Untersuchung durchzuführen, um die zu ergreifen, die unsere Stadt mit Schande überschüttet haben. Alle berittenen Männer in vollen Waffen sollen sich bereithalten, wir brechen in einer Stunde auf.«
Rufe wurden laut. »Das waren die Württemberger! Haben sie nicht im letzten Jahr noch Höfe geplündert?«
Ein Mann schüttelte die Faust. »Lasst uns das Feuer nach Württemberg tragen! Sind wir nicht stark genug, um die Grenzen ein für alle Mal neu zu ziehen?«
Die Menge johlte zustimmend, aber Remser hob abwehrend die Hände. »Glaubt mir, nichts würde ich lieber tun als das, und vielleicht könnten wir die Württemberger auch schlagen. Aber bevor wir nicht sicher sind, dass sie dahinterstecken, kommt es einer Kriegserklärung gleich. Zurzeit haben wir Landfrieden, und den können wir ohne ernsthaften Anlass nicht brechen. Seid versichert, wenn wir herausfinden, dass die Württemberger etwas damit zu tun haben, werden wir nicht zögern, gegen sie zu Felde zu ziehen. Dann werden sie allein dastehen, und niemand wird ihnen zu Hilfe eilen.«
Raimund musste Remser Respekt zollen. Er war ein entschlossener und zugleich kluger Mann und hatte die Meute im Griff. Natürlich würden sie nichts finden, was gegen den Erzfeind sprach. Das Ergebnis würde lauten: Der Raubritter Friedrich von der Kronenburg und marodierende Banden, die sich zusammengeschlossen und den Wagenzug überfallen hatten, steckten dahinter. Man würde die Kronenburg kurzerhand niederbrennen, und niemand würde sich darum scheren.
Wieder erklang die Fanfare. Alles war gesagt, jetzt hieß es handeln. Nur für Raimund gab es nichts zu tun. Beherzte Männer würden am Hohlweg Wache halten, würden im Schein von Fackeln die furchtbar zugerichteten Leiber in grobe Leinensäcke einnähen und auf Wagen verladen, die am nächsten Morgen dort eintreffen würden. Die toten Angreifer würde man an Ort und Stelle aufknüpfen und so lange hängen lassen, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Den Opfern würde man eine große Messe zelebrieren und sie im Schatten von St. Dionys begraben. Ob sie die Spuren richtig deuten würden? Ihnen bis zur Lichtung folgen und die richtigen Schlüsse ziehen würden? Wohl kaum. Sie hatten ja nicht einmal gemerkt, dass ein Leichnam fehlte.
Die Wirkung des Bieres ließ nach. Raimund fühlte Angst aufsteigen. Eine Angst, die er lange vergessen glaubte. Die Angst um einen anderen Menschen. Angst um Melisande. Er musste sie so schnell wie möglich aus der Stadt schaffen.
***
Ottmar de Bruce war hoch hinauf auf den Turm gestiegen. Die Geschichte mit Bruder Eusebius gefiel ihm. Sie bestätigte, was er über Mönche dachte. Diese Heuchler! Nach der Messe liefen sie zu den Hübschlerinnen, nahmen sich dann gegenseitig die Beichte ab und predigten Enthaltsamkeit und Ehrfurcht vor Gott.
Er leerte den Krug, den er mitgenommen hatte, und warf ihn hinunter auf den Burghof, wo er zersplitterte und einige Söldner erschreckte. Er ballte die Fäuste. Selbst der Wein vermochte den Schmerz in seiner Seele nicht zu besänftigen. Er wusste nicht, woher er kam. Er
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