Henkersmahl
gingen auf die dubiose Krankheit zurück, die Ministerien in NRW und Rheinland-Pfalz standen unter enormem Druck. Burkhard Weidner beugte sich über den Tisch, griff nach einem grün-schwarz gestreiften Kugelschreiber und drehte ihn versonnen hin und her. Ein Weihnachtsgeschenk von Tim. Er musste ihn unbedingt treffen. Schon während er dies dachte, merkte er, dass er keine rechte Lust dazu verspürte. Es war wie immer. Jeder Gedanke an seinen Sohn verursachte ihm Magenschmerzen. Tim hatte das Abitur nicht geschafft und bis heute keine Lehrstelle gefunden. Mit Gelegenheitsjobs versuchte er seither, sich über Wasser zu halten, aber finanziell reichte es natürlich hinten und vorne nicht. Ob er immer noch dealte? Er war der festen Überzeugung, genauso wie er glaubte, dass sein Sohn nie ernsthaft versucht hatte, eine Lehrstelle oder zumindest eine feste Anstellung zu finden. Er hatte sich in den letzten Jahren, ganz gleich, wo er aushalf, immer wieder mit seiner Besserwisserei und Überheblichkeit unbeliebt gemacht, hatte während der Arbeitszeit private Telefonate geführt und in den Pausen heimlich Joints geraucht. Meistens war ihm spätestens nach zwei Monaten gekündigt worden. Ihm war völlig klar, dass Tim erst dann ein geregeltes Leben führen würde, wenn er von den Drogen loskäme. Mit geschlossenen Augen atmete er dreimal tief durch die Nase ein und laut durch den Mund wieder aus, sodass es sich anhörte, als sei eine Lokomotive mit Volldampf im Begriff, sich unter allergrößter Anstrengung einen steilen Berg hinauf zu winden. Eine Atemtechnik, die er von seiner Kinesiologin, die er einmal im Monat aufsuchte, zur Stressbewältigung gelernt hatte und die er nur anwandte, wenn er sich absolut allein und unbeobachtet wusste.
Weidner öffnete die Augen, atmete gleichmäßig weiter und begann, kryptische Figuren auf seine Schreibtischunterlage zu malen. Er überlegte, ob die Minister sowie die Polizeipräsidenten beider Bundesländer recht hatten, wenn sie den Ausbruch einer Massenhysterie befürchteten, die vermutlich großen wirtschaftlichen Schaden verursachen würde. Die Firmen Chocolat Royal Suisse und Fresko hatten bereits mit Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe gedroht, falls in den Medien ohne stichhaltige Beweise vor dem Kauf ihrer ins Visier geratenen Nahrungsmittel gewarnt würde. Sie befürchteten enorme Umsatzeinbußen. Die Entscheidung des Ministers, bislang nichts von den in Verdacht geratenen Produkten verlauten zu lassen, erschien Burkhard Weidner richtig. Bei dem Frischkäse und der Vollmilchschokolade gab es bisher keine stichhaltigen Beweise dafür, dass die Derivate Übelkeit, Erbrechen oder Kreislaufbeschwerden auslösten. Im Gegenteil, die neuesten Meldungen aus der Rechtsmedizin und den Laboren der betroffenen Unternehmen ließen den Schluss zu, dass die Derivate nicht in Zusammenhang mit den Todesfällen standen.
Aber: Alle Opfer hatten Alkohol im Blut gehabt. Burkhard Weidner presste die linke Hand auf den Magen und befahl sich, nicht mehr daran zu denken.
26
»Einer schönen Frau widerspreche ich grundsätzlich nicht!« Mit dem charmantesten Lächeln, das er zu bieten hatte, öffnete Jörn Carlo Regine Liebermann die Redaktionsbürotür.
»Solche Übertreibungen dienen nicht dazu, deinen Marktwert zu erhöhen, auch wenn ich sie hin und wieder ganz gern höre«, erwiderte Regine Liebermann gut gelaunt. Beide waren gerade im Begriff, das Büro zu verlassen und prallten auf Florian, der soeben zur Tür hereinkam.
»Dich habe ich schon gesucht!«, rief Regine, »Komm doch bitte heute Nachmittag in mein Büro, so gegen 16 Uhr.«
»Gern«, antwortete Florian und drückte hinter Regine Liebermann und Jörn Carlo, die die Stufen hinunter auf den Hansaring nahmen, die Tür ins Schloss. Die Art und Weise, wie seine Chefin Carlo angestrahlt hatte, hatte ihm gezeigt, dass er ihr zuvor schon mehrere Komplimente gemacht haben musste, was dafür sprach, dass er Regine das ihm aufgenötigte Moderationstraining mittlerweile verziehen hatte. Florian freute sich darüber, denn wenn die beiden gut drauf waren, bedeutete das auch, dass die Stimmung in der gesamten Redaktion gut war.
Wie immer ging Florian auch heute zuerst in die Redaktionsküche, bevor er sein eigenes Büro aufsuchte. Er überlegte, dass er mit etwas Glück Jana dort antreffen würde und strich sich unwillkürlich übers Haar, aber von Jana gab es weit und breit keine Spur. Enttäuscht nahm er Kurs auf die am Tag
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