Hennessy 02 - Rätselhafte Umarmung
Kontakt, wollte trösten und getröstet werden, gleichgültig, ob Addie bei Verstand war oder nicht.
»Das Glas wurde von innen zerbrochen«, stellte Bryan fest, der das klaffende Loch im Fenster untersuchte. Scherben lagen auf dem breiten Sims draußen. Behutsam schob er das Fenster hoch und trat mit einem Fuß hinaus. Er schaute zum Giebel hoch und sah sich um. Der Fenstersims war mit einem rostigen schmiedeeisernen Geländer verziert, das auf einer Seite herausgebrochen war. Von Addies Geist war keine Spur zu sehen, nur der Wind heulte klagend in den vielen Türmchen und Giebelchen des alten Hauses. In der Ferne toste der Ozean.
»Ich habe einen Stein nach dem grässlichen Ungeheuer geschmissen«, verkündete Addie aufsässig. Wütend und misstrauisch kniff sie die Augen zusammen. »Will sich einfach hier reinschleichen und meine Vogelkäfige stehlen.«
Rachel schloss die Augen und seufzte. Bestimmt war nichts vor dem Fenster gewesen, was außerhalb von Addies Einbildung existierte. Sie hatte gelesen, daß die Alzheimer-Krankheit oft von paranoiden Zuständen begleitet wurde. Der Kranke konnte sich nicht mehr daran erinnern, wo er etwas hingelegt hatte, und konnte auch nicht begreifen, daß niemand sonst daran interessiert war, deshalb war er überzeugt, daß jemand ihn bestahl. Nachts eingebildete Dinge zu sehen oder zu hören war ebenfalls nicht ungewöhnlich für Menschen mit Addies Krankheit. Weil sie das wusste , stand für Rachel schmerzhaft fest, was geschehen war.
»Nun, jetzt ist er weg«, erklärte Bryan, als er wieder hereingeklettert war. Er hatte eine Schraube aus der losen Verankerung des Geländers gezogen und rieb jetzt mit nachdenklicher Miene die morschen Holzfasern vom Gewinde.
»Ich werde mich morgen früh um das Fenster kümmern. Heute nacht... kannst du in meinem Zimmer schlafen, Mutter«, bot Rachel an, die es ihrer Mutter möglichst bequem machen wollte und zugleich hoffte, sie ein wenig für sich einnehmen zu können.
Addie sah sich mit ängstlich aufgerissenen Augen in dem Raum um. Hier wusste sie, wo alles stand - meistens jedenfalls. Normalerweise wusste sie auch, wie sie von diesem Zimmer in jedes andere im Haus gelangte. Aber wenn sie die Nacht in Rachels Bett verbrachte, dann war sie verloren, und sie würde es niemandem verheimlichen können.
»Das ist mein Zimmer«, verkündete sie mit hoch erhobenem Kinn. »Und hier schlafe ich, solange es mir gefällt.«
»Mutter«, wandte Rachel müde ein, »bitte sei doch nicht so eigensinnig.«
»Macht nichts.« Bryan lächelte plötzlich, bückte sich und zog seinen Schuh aus. Mit dem Absatz als Hammer trieb er die Spitze der rostigen Schraube in die dicke Querstrebe in der Mitte des Fensterrahmens. Dann nahm er ein großes, düsteres Ölgemälde, das ein sinkendes Schiff zeigte, von der Wand und hängte es an den Haken, so daß es die untere Hälfte des Fensters verdeckte und die feuchtkalte Luft abhielt, die durch das Loch im Glas hereindrang.
»So gut wie neu, und dabei noch abwechslungsreicher«, bemerkte er, bevor er einen Zettel aus seiner Hosentasche zog und etwas darauf kritzelte.
Erleichtert atmete Addie tief aus, und ihre Schultern sanken herab. Sie entwand sich Rachels lockerer Umarmung, trat vor Bryan und tätschelte ihm die Wange. »Braver Junge«, lobte sie ihn wie einen guterzogenen Spaniel.
»Ich weiß, wie gern Sie Ihr Zimmer mögen«, sagte er. Er nahm Addies Hand, aber sein Blick wanderte vielsagend zu Rachel. »Und wir wollen Ihnen doch keine unnötigen Umstände machen.«
»Hennessy, Sie sind ein Schatz«, dankte ihm Addie.
Rachel saß auf dem Bett, strich gedankenverloren mit einem Finger über die Unterlippe und sann über Bryans Verhalten nach - hier wie unten im Arbeitszimmer. Sie spürte immer noch seine Umarmung und seinen Geschmack. Seine Küsse waren bezwingend. Gleichgültig, ob es richtig oder falsch gewesen war, sich von ihm küssen zu lassen - sie fühlte sich stärker und nicht mehr so allein.
Ihre Mutter wirkte entspannt; sie hantierte glücklich an dem Bild vor dem Fenster herum, rückte es immer wieder gerade und hatte den Vorfall mit dem Geist anscheinend schon wieder vergessen. Rachel ließ den Blick nachdenklich durch das Zimmer mit der glänzenden grellroten Seidentapete wandern. Alles hatte seinen Platz, und alles war an seinem Platz. Alles im Zimmer wirkte arrangiert. Nicht alles, was im Zimmer war, schien hierherzugehören - wie zum Beispiel die merkwürdige Kieselsammlung auf dem
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