Hennessy 02 - Rätselhafte Umarmung
sank endgültig.
»Oooo neeeiiin!«
»Was ist denn?« fragte Bryan, der gerade ohne seine Tanzpartnerin in die Küche zurückkehrte.
Benommen hielt Rachel ihm den Umschlag hin. »Du sagst doch immer, daß sich irgendwas finden wird. Es hat sich was gefunden.«
Bryan zog den Brief aus dem Umschlag, rückte sich die Brille auf der Nase zurecht und begann leise zu lesen. Er erbleichte und reichte die Nachricht an Rachel zurück. »O nein ...«, war alles, was ihm dazu einfiel.
Rachel fühlte sich, als hätten sich all ihre Knochen in Gelee verwandelt. Sie setzte sich auf einen Stuhl am Küchen tisch und starrte wie in Trance vor sich hin. Einen Brief wie diesen hatte sie schon öfter gelesen. Allerdings war ihr noch nie deswegen schwindlig geworden.
Das Finanzamt wollte bei der Firma Lindquist Antiquitäten eine Steuerprüfung vornehmen.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich schon im Gefängnis sitzen.
Sie schaute Bryan an und verzog ihren Mund zur Parodie eines Lächelns. »Hast du auch dafür was in deinem Zauberhut, großer Magier?«
»Ich werde hier nicht ausziehen.« Addie kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und verschränkte die Arme vor dem schlaffen Busen. Dann lehnte sie sich in die abgewetzten roten Samtpolster des riesigen, throngleichen viktorianischen Sessels zurück und wappnete sich für die Schlacht.
Rachel und Bryan hatten sich den ganzen Tag durch das verwinkelte Labyrinth von Zimmern in Drake House gearbeitet und die Antiquitäten, die während des Flohmarkts angeboten werden sollten, mit Preisschildern versehen. Es war ein langer Tag gewesen, und die Atmosphäre war zunehmend bedrückender geworden. Addie war hinter ihnen hergeschlurft, hatte die Preisschilder wieder abgerissen und sich ununterbrochen darüber beschwert, wie Rachel sie behandelte. Zweimal hatte sie die Polizei angerufen und behauptet, sie werde beraubt. Zweimal hatte Rachel gleich darauf angerufen, um zu erklären, daß es sich um falschen Alarm handelte. Die Mahlzeiten wurden von gespanntem Schweigen und bissigen Bemerkungen gewürzt. Addies Laune hatte sich von Stunde zu Stunde verschlechtert, und Rachels Nerven waren inzwischen dünn wie Seidenfäden.
Bryan beobachtete die beiden Frauen mit einer schrecklichen Vorahnung. Er spürte, wieviel Anspannung, Verletztheit und Wut sich seit Tagen unter Rachels freundlichem Äußeren angestaut hatte. Ihr Kiefer war zornig vorgestreckt und bebte unter der Anstrengung, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Und Addie, die ihr den ganzen Tag über zugesetzt hatte, zeigte keine Anzeichen von Friedensbereitschaft.
Er setzte seine Brille ab und rieb sich die Augen. Er war erschöpft, weil er den ganzen Tag über Rachel vor einem Ausbruch bewahrt hatte und ständig damit beschäftigt gewesen war, einem Streit zwischen den beiden Lindquist-Frauen zu verhindern, aber offensichtlich war dem müden Krieger auch heute abend keine Ruhe gegönnt.
»Addie, in diesem Stuhl sehen Sie wirklich königlich aus«, sagte er und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Hab ich Ihnen jemals erzählt, wie ich die Königin von Schweden getroffen habe?«
»Konnte sie singen?« fragte Addie. »Rachel konnte nämlich singen. Sie hatte eine Engelsstimme, aber sie hat sie verkommen lassen, und nun sind wir vollkommen mittellos.«
»Addie, das ist ungerecht...«
»Nein, sie hat recht, Bryan«, unterbrach ihn Rachel mit einem angsteinflößenden Lächeln. Sie warf in einer kapitulierenden Geste beide Arme hoch. »Ich habe die ganze verdammte Welt auf dem Gewissen, weil ich keine Opernsängerin geworden bin. Bestimmt hätte man ein Mittel gegen Krebs gefunden, wenn ich nur die Aida gesungen hätte. Und jeder mit einem Funken Verstand weiß, daß es längst keinen Hunger mehr auf der Welt geben würde, wenn ich nur mit der Metropolitan Opera auf Tour gegangen wäre. Bestimmt würden Mutter und ich in unermesslichem Reichtum und ewigem Glück leben, wenn ich bloß die Carmen gespielt hätte.«
»Rachel, sei nicht albern«, fuhr Addie sie an. »Die Carmen hat dir nie gelegen.«
»Es tut mir leid Mutter«, entgegnete Rachel vollkommen ungerührt. »Wie konnte ich nur so dumm sein!«
»Du ähnelst deiner Tante Marilyn. Die hatte auch kein Verantwortungsgefühl.«
Rachel taumelte zurück, als hätte sie einen Hieb in den Magen einstecken müssen. Kein Verantwortungsgefühl? Sie hatte immer Verantwortung übernommen! Sie hatte ihre Kindheit und j ugend geopfert, weil sie die Verantwortung
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