Henningstadt
jung ist: siebzehn. Henning merkt, dass die Blicke auf ihm ruhen. Das Ritual, bei dem er dasselbe sagt wie alle anderen, hat schon ein Stück Gemeinschaft entstehen lassen. Er ist froh, dass er hergekommen ist. Leider ist nie mand in seinem Alter dabei. Der Jüngste nach ihm ist zwei undzwanzig.
«Was können wir denn für dich tun?», fragt Peter.
Henning erlebt den Rausch, normal zu sein. Was aber für ihn getan werden kann, weiß er auch nicht. Er sei schwul, sagt er jetzt ganz freiwillig, und habe eben ge dacht, er gehe mal zur SIH. Wohlwollende Heiterkeit quit tiert die Antwort. «Ja, schön. Herzlich willkommen!», sagt Peter.
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Ach, mein lieber Henning!
Du hast diesen Gang angetreten, als ginge es zum Scha fott! Langsam einen Fuß vor den anderen setzend. Dabei hättest du schon auf dem Weg hierher tanzen kön nen!
Jetzt leuchten deine Augen so schön wie zwei Sterne und alle wollen dir zeigen, was schwuler Sex ist, weil: Alle Schwulen sind nette Leute! Das solltest du dir jetzt merken, denn im echten Leben merkst du ’ s nicht unbe dingt.
Die Community, die Familie, die Schwestern und Brü der sind so ungefähr das Wichtigste, was es in deinem Le ben geben kann: Gemeinschaft. Denn Einsamkeit ist aller Laster Anfang.
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«Du kannst dir ja erst mal angucken, wie es bei uns so ist. — Oder gibt es — also hast du vielleicht schon ‘ ne bestimmte Sache auf dem Herzen?» Henning hat tausend bestimmte Dinge auf dem Herzen, nicht eine, und so sagt er nein. Sich die Gruppe einfach erst mal anzuschauen, findet er eine gute Idee.
«Also wie gesagt, die Flyer sind weg. Was sollen wir machen?»
«Wer hat sie denn weggenommen?»
«Haben sie denn überhaupt da gelegen?»
«Wer hat das denn angeordnet?» Und so weiter gehen die Fragen, von Äußerungen der Entrüstung begleitet. Henning lächelt noch ein bisschen schüchtern vor sich hin und tritt von der Bühne ab. Dass er einen dieser Flyer hat und daraufhin gekommen ist, sagt er. Dass es sich ja dann schon gelohnt habe, sagt irgendjemand.
An der Tür sind Geräusche vernehmbar. Ein Scharren, ein Poltern, ein Fluchen und das Öffnen der Tür. Ein paar Leute grinsen. Köpfe drehen sich zur Tür. «Das war unse re Hemmschwelle. Die meisten Neuen stolpern darüber. Aber du hast damit ja keine Probleme gehabt.»
«Ein gutes Omen also!», sagt Mark. Da versteht Hen ning den Scherz und lächelt höflich. Steffen kommt zur Tür rein. Mittelgroßes Hallo für Steffen und wo denn die Franzosen seien, die er mitbringen sollte.
Den Scherz versteht Henning auf Anhieb und hätte auch gerne einen davon abgekriegt. Er grinst und sieht sich Steffen an. Steffen geht am Tisch vorbei schnur stracks zu den Getränken und holt sich ein Bier. Von den Anwesenden gefällt dieser Neuzugang Henning am Bes ten: kurze braune Haare. Gute Figur, soweit man das sehen kann. Ein männliches Gesicht mit Stoppelbart. Ein Ohrring links. Die Brust zeichnet sich unter dem T-Shirt ab. Er macht einen unternehmungslustigen Eindruck. «Wer ist denn das?», erkundigt sich Henning bei seinem Nachbarn. Der wittert den Braten gleich.
«Steffen ist nett», sagt er, um das junge Glück zu beför dern. «Der war grad in Frankreich, glaub ich.»
«Aha», sagt Henning. Steffen kommt zurück aus der Getränkekammer und setzt sich, ohne weiter zu stören. Leserbriefe werden beschlossen. Eine Anfrage wird be schlos sen. Eine Beschwerde wird beschlossen. Christian will versuchen, einen Artikel zu lancieren. Ob man eine Protestveranstaltung auf die Beine stellen kann und will, wird diskutiert. Eine schwule Demo in Henningstadt! Dann ist es irgendwann zehn Uhr, und man beschließt, in die Kneipe zu ziehen. Die Leute suchen Kleingeld für ihre Getränke raus. Steffen ist in Hennings Nähe. Sie stehen Rücken an Rücken.
Henning saugt.
Henning saugt gierig den Duft nach Mann ein. Steffen riecht total gut. Nach Parfüm ein bisschen und ein biss chen nach frischem Schweiß und ein bisschen nicht einzu ordnen. Steffen riecht nach Mann. Henning will die Hän de nach hinten ausstrecken und fühlen, wie sich der Mann anfühlt. Henning wird schwindelig. Amüsiert stellt er fest, dass ihn schwindelt. Steffen geht weg. Die Leute suchen ihren Krempel zusammen und bummeln zur Tür. Steffen auch. Henning bummelt so unauffällig wie mög lich, aber so rasch wie nötig in Steffens Nähe. Der verab schiedet sich gerade von Christian. Ob die zusammen sind, fragt sich Henning, und eine
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