Henningstadt
Welt. Er holt den Flyer aus der Küche und legt ihn neben die Nummer. Henning betrachtet sein beginnendes schwu les Leben. Auf dem Weg zum Klo sieht er, dass der Anrufbeantworter blinkt.
«Hier ist Isabell. Henning, ich finde du hättest dir die Sache vorher überlegen können. Du hast mir was vorge macht und vielleicht jahrelang und ich dachte, wir sind Freunde und ich bin sauer und ich weiß überhaupt nicht, was das soll! Du hast gesagt, wir lieben uns und wir wollen Zusammensein und ich bin echt sauer! Ich komm mir total verarscht vor! Ich hab keinen Bock mehr auf dich!»
Henning atmet drei Mal tief durch. Das hat er von ei ner Frauenzeitschrift beim Zahnarzt gelernt. Beim Pissen ist er der Meinung, dass er keine Lust hat, traurig zu wer den, dafür ist er zu erleichtert. Er hat keine Lust mehr auf dieses ständige Wechselbad der Gefühle. Henning ist to tal froh, dass er jetzt schwul ist, dass er jetzt Bescheid weiß. Isa ist sauer: soll sie sauer sein, dann muss sie eben sauer sein.
Sie ist impulsiv und es wird nicht alles so heiß geges - sen, wie es gekocht wird. Er spült und hört das Wasser rauschen. Wird schon wieder, denkt er. Sie weiß Be scheid, und das ist die Hauptsache. Er ist eben schwul. Isabell muss das verstehen. Und sonst muss sie ’ s bleiben lassen. Er kann ja auch nichts dafür, dass er es nicht vorher gewusst hat. Völlig erschöpft legt er sich ins Bett. Er hat keine Lust, sich die Traurigkeit reinzuziehen, die Isabell von ihm verlangt.
Er hat heute Abend mit vielen Leuten gesprochen. Er lässt noch mal Revue passieren, was ihm aufgefallen ist und wie die Leute heißen, damit er die Namen nicht wie der vergisst.
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Christian, Mark, Anatol, der Typ mit dem Bier und je mand, den wir noch nicht kennen gelernt haben, wichsen in verschiedenen Wohnungen auf Henning. Und warum auch nicht, schließlich ist Sonntag. Wahrscheinlich würde es ihn freuen, außer bei dem Biertypen.
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Am nächsten Vormittag räumt Henning die Wohnung auf, einschließlich seines eigenen Zimmers. Er wirft die Spülmaschine an, rätselt ein bisschen an der Wasch maschine rum und bringt sie schließlich zum Laufen. Die ses Gerät ist ihm ein bisschen unheimlich.
Steffens Nummer legt er auf den Schreibtisch. Die El tern wollen so gegen acht Uhr abends wiederkommen. Das ist Gott sei Dank noch eine ganze Weile hin. Henning stellt MTV laut, wirbelt durch die Wohnung und grübelt dabei vor sich hin. Er will Steffen anrufen. Steffen geht ihm im Kopf rum. Er will sich aber auch nicht zu schnell bei ihm melden, sonst denkt Steffen noch irgendwas. Aber wenn er das denkt, wenn Henning jetzt anruft, dann denkt er ’ s sowieso schon. Und warum soll er auch nicht denken, dass sich Henning in ihn verguckt hat. Hat er ja schließlich gar nicht, denkt Henning. Er kennt ihn ja nicht mal.
Henning wählt Steffens Nummer, als es endlich eins geworden ist. Da kann Steffen denken, dass Henning gera de aus der Schule gekommen ist und eben jetzt den Nachmittag plant. Kurzentschlossen jagt Henning in sein Zimmer, holt die Nummer, die er eh schon auswendig kann, rennt zurück in den Flur, wählt und sagt nichts auf den Anrufbeantworter.
Enttäuscht geht er in die Küche, setzt sich auf einen Stuhl und langweilt sich. Er ist auf jeden Fall froh, dass er wieder gezwungen sein wird, zur Schule zu gehen, wenn seine Eltern zurück sind. Es ist ihm nicht wohl mit diesem ständigen Krankspielen. Aber Schule macht krank! Er sorgt für gutes Wetter mit der Aufräumaktion. Seine El tern müssen noch die Entschuldigungszettel unterschrei ben. Machen sie auch. Henning hat gute Noten, und des halb finden es seine Eltern nicht so wahnsinnig schlimm, wenn er nicht hingeht. Aber begeistert sind sie auch nicht gerade. Gutes Wetter durch gute Ordnung also. Es geht auch darum, zu zeigen, dass er vernünftig ist. Der Weg, ein normaler und erwachsener Mensch zu sein, führt über die Vernünftigkeit.
Toll, toll, toll, denkt Henning amüsiert-genervt. Als ob man irgendwas lernen würde in der Schule. Na ja, das stimmt auch nicht, denkt er, aber fast. Jedenfalls ist Unter richt vollkommen ineffektiv und eine Beschäftigungsthe ra pie zugunsten Erwachsener, die ihre Kinder nicht so oft sehen wollen, und außerdem hat Henning keine Lust mehr, zum hunderttausendsten Mal über Schule und Un ter richt nachzudenken und wie man die Entschuldi gungs vor drucke am besten fälschen kann und ob sie ihm nun ein Abi geben oder lieber doch
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