Henningstadt
beliebt, und das Unglück des Herzens kann niemals Gegenstand von Gesprächen sein, die der Eigenwerbung dienen. Es ist der Ausdruck eines nicht zur inneren Stim migkeit gediehenen Gemüts. Und diese Unterhaltung dient der Eigenwerbung.
«Und wie sieht ’ s mit deinem Schwul-Sein aus?», fragt Steffen, als hätte er Hennings Gedanken gelesen. «Na ja», sagt Henning und erzählt nun doch von Isabell. Und es rollt ihm ein Tränchen die Augen runter.
«Sei nicht traurig!», sagt Steffen, weil ihm nichts Blöde res einfällt. «Vielleicht renkt sich alles wieder ein und es ist nur der erste Schock, sozusagen.»
«Wie war das denn bei dir, dein Coming-out?»
«Also bei mir war das insofern kein Problem mit Freun den, als ich sowieso gerade in eine andere Stadt ge gan gen war und da mein Coming-out hatte. Den Leuten, die ich kennen gelernt hab, hab ich immer ziemlich von An fang an zu verstehen gegeben, dass ich schwul bin. Also eigentlich hab ich dann sowieso hauptsächlich Schwu le kennen gelernt. Und bei den Designern an der Uni gab ’ s davon ja natürlich auch genug.» Steffen lacht.
«Hm», sagt Henning. «An meiner Schule bin ich der Ein zige.»
«Vielleicht kommen ja noch welche nach, wenn du erst mal der Erste bist.»
«Meinst du?»
«Klar, wieso nicht? Laut Statistik sind etwa fünf Pro zent der Männer schwul.»
«Echt!» Henning ist verblüfft. Vorgestern war er noch alleine mit dem, um dessentwillen man das Wort erfun den hatte, gestern waren sie schon vierzig oder so, und gerade sind sie ein paar Millionen geworden.
«Woher willst du das wissen?»
«Na ja. Ich hab mal in Berlin auf der Straße dreitau send Leute gefragt, ob sie schwul sind, und hundertdrei und fünfzig haben ja gesagt. — Also fünf Prozent.»
Henning sieht ihn an. Henning würde Steffen alles glau ben, aber er will auch nicht blöd dastehen, wenn Steffen ihn gerade verarscht. Schließlich — bis man dreißig ist, muss man sich schon so viel gelangweilt haben, dass es vielleicht gar nicht verwunderlich ist, wenn man sich eines Tages auf die Straße stellt und Leuten blöde Fragen stellt.
Steffen erzählt Henning vom Kinsey-Report und stellt fest, als Henning ihn fragt, was die sonst noch rausge kriegt haben, dass er eigentlich sonst gar nichts darüber weiß. Dafür nennt er ihm noch das dicke Buch von Dan necker. Und dass er sich ausmustern lassen kann, unter Umständen, wenn er ein Attest von dem beibringt. Das ist das erste Coole, das Henning über Schwul-Sein erfährt. Viele weitere phantastische Erlebnisse, Begebenheiten, Mög lich keiten, Vorzüge und Geschlechtsakte werden fol gen.
Henning genießt Steffens Nähe. Steffen hat schöne Augen. Das war ihm gar nicht so aufgefallen beim ersten Mal. Seine Bewegungen haben so was Zugreifendes, Aggres sives. So, denkt Henning, sollte ein Mann sein und wundert sich, dass er selbst nicht so geworden ist. Bis er merkt, dass bei Männern, die so sind, das Ausmaß ihrer Mannhaftigkeit umgekehrt proportional zu dem der An zahl der Tassen in ihrem Schrank ist, wird noch viel Was ser die Henning runterfließen.
Aber eigentlich will man das ja sowieso nicht wissen. Steffen ist aber ganz in Ordnung. Er hat nur ein paar Hauche von diesem Gehabe, und Henning ist schließlich auch kein einfacher Charakter. So viel also aus der Sicht des Autors, der die beiden ja nun schon ganz gut kennt, auf Seite neunundneunzig.
Henning ist euphorisch, weil es so viele Schwule gibt. Er nimmt sich vor, diesen Report zu besorgen. Ob Steffen denkt, dass es den in der Stadtbibliothek gibt. Steffen glaubt schon. Sonst könne er ja Christian fragen, der habe das bestimmt.
Andreas, der Ex von Isa, Erik und noch zwei Typen aus seiner Jahrgangsstufe kommen ins Café . Henning fühlt sich beobachtet. Nach zehn Minuten fühlt er sich von allen hier im Hagelkorn beobachtet. Er schlägt Steffen vor, noch woanders hin zu gehen. Steffen merkt, dass ir gendwas ist, erkundigt sich, findet die Sache unsinnig, hat aber auch nichts dagegen, das Café zu verlassen. Er lädt Henning ein. Henning freut sich darüber und hofft, dass niemand es bemerkt.
Sie stehen vor dem Café . «Und jetzt?», fragt Steffen. «Kei ne Ahnung», sagt Henning. «Wir können ja ein biss chen durch die Geschäfte bummeln», schlägt Steffen vor, weil er ohnehin noch ein paar Kleidungsstücke kaufen will. Seine Sachen haben ja einen erheblichen Schwund er lit ten, in diesem Frankreich. Er erzählt Henning von seinem letzten Urlaub, und Henning
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