Henningstadt
fal len schon keinem mehr auf. Warum soll ausgerechnet Schwul-Sein ein Problem sein? Allerdings, fällt Henning ein, hat er die wenigsten Jungen für normal gehalten. Schon dass es bei ihnen nicht wirklich üblich ist, in gan zen Sätzen zu sprechen, hat er immer gehasst.
Dazu muss ich sagen, dass es allerdings nicht ganz rich tig ist, was Henning sich da denkt. Ich persönlich habe erst neulich eine Hete getroffen, die im Gegenteil gera dezu nicht in der Lage war, einen Satz zu bilden, der keine Gesamtschau der Möglichkeiten der Partizipial-, Modal- und Nebensatz-Konstruktionen des Deutschen bot. Das ist auch nicht schön! Wir können also festhalten, dass auch Heten in der Lage sind zu sprechen.
Er glaubt nicht, dass seine Meinung über Männlichkeit anders wäre, wenn er nicht schwul wäre. Wäre. Wäre. Vielleicht ist er ja bi. Oder gar nicht schwul. Er hat noch mit keiner Frau geschlafen. Und selbst wenn, was hätte das zu sagen?
Ob er Isabell einfach sagen soll, dass er sich nicht sicher ist, damit sie sich wieder abregt? Das wäre wohl noch bekloppter.
Und so vergeht die erste Doppelstunde Englisch.
Auf dem Weg zum Kaffeeautomaten denkt er, dass es eine gute Idee wäre, die Jungs normal zu finden. Erst mal als Arbeitshypothese. — Wenn er will, dass sie ihn auch normal finden. Henning steckt ein Fünfzig-Pfennig-Stück in den Schlitz.
Immer diese Reinsteckerei, denkt er. Früher war das an ders. Natürlich bin ich schwul, denkt Henning. Ich gehe in die Schwulengruppe und nicht in die Bi-Gruppe (die es in Henningstadt nicht gibt) und natürlich bin ich schwul. Entschlossen nimmt er seinen Kaffee aus dem Auto maten.
Auf dem Weg zum Hof kommt ihm Isabell entgegen. Natürlich. Meistens treffen sie sich in der großen Pause am Kaffeeautomaten. Isabell taxiert ihn und verschraubt ihre Lippen.
Henning überlegt, ob er lächeln soll. Kurz, flüchtig. So dass es heißt, wir sind zwar gerade zerstritten, aber wir sind trotzdem Freunde. Vielleicht überlegt Isabell das auch, aber beide lächeln nicht. Isabell geht schnell. Hen ning geht langsam, um zu sehen, ob sie vielleicht doch —
Isabell geht schnell, damit sie durchhält und zeigt, dass sie sauer ist — und zwar wirklich. Sauer ist sie nicht mehr, merkt sie, aber in gewisser Weise hat sie mit Hen ning abgeschlossen. Allein am Kaffeeautomaten steckt sie ihr Fünfzig-Pfennig-Stück rein und denkt über Analver kehr nach. Sie hat mal eine Prozentzahl gelesen, wie viele normale Paare das machen. Hat sie erstaunt, wie viele das waren. Sie wird traurig wegen Henning. Wenn er schwul ist, ist er ein anderer geworden. Schwul ist schön und gut, aber nicht so. Henning hat das Gefühl, sich am Türrah men festhalten zu müssen. Macht er auch. Es sieht aus, als stehe er da und halte Ausschau nach irgend jemandem. Der Hof ist voll von Oberstufenschülern. Seine Brust ist wie zugeschnürt. Er kriegt keine Luft mehr. Er hält sich fest.
«Was ist denn los mit dir und Isabell?», fragt Lars.
«Was soll sein?», fragt Henning und holt tief Atem. Der Kreislauf kommt langsam wieder. Was steigert er sich auch immer in alles so rein? Warum nimmt er nicht gleich ein Fläschchen Riechsalz mit in die Schule, für den Fall, dass er sich aufregt.
«Was soll sein? Wir haben uns halt gestritten.»
«Du und Isa?»
«Ja.»
«Krass! Warum denn?»
«Nur so.»
«Aha!», sagt Lars.
Lars ist einen halben Schritt vorgegangen und hat Hen ning an den Rand des Hofs geführt. Jetzt macht er Anstalten, den Weg zur Turnhalle einzuschlagen. «Kommst du mit? Solln wir ‘ ne Runde drehen?» Henning nickt. Lars dreht sich eine Zigarette, bietet Henning auch eine an. Henning raucht nur gelegentlich, aber heute ist das sicher ganz gut. Wer in der Schule Zigaretten anbie tet, will was. Henning ist also gespannt.
«Sag mal, du bist doch schwul», fängt Lars an. Hen ning hustet den ersten Zug aus. Zeit für die nächste Ohn macht, denkt er. Er sagt nichts. Er wartet erst mal ab.
«Versteh mich nicht falsch», sagt Lars. «Also ich wollt halt einfach mal fragen, woher du das weißt.»
Henning bleibt misstrauisch. «Na ja, ich überlege halt, ob ich —», sagt Lars, ohne das Grauenerregende auszu spre chen, das er überlegt.
«Ob du schwul bist?», fragt Henning. Lars nickt. Hen ning muss unwillkürlich lächeln. Egal ob der jetzt schwul ist, jedenfalls redet er noch mit ihm, und zwar ganz ver nünftig über Schwul-Sein. Natürlich ist das so, er hat es gewusst. Aber wenn man es merkt, ist
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