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Henry dreht Auf

Henry dreht Auf

Titel: Henry dreht Auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharpe
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beschäftigt war. Fünf Minuten später hatte er die Berufsschule verlassen und sich wieder jenen spekulativen Gedankengängen hingegeben, die einen Großteil der Zeit, die er mit sich allein war, in Anspruch nahmen. Warum machte er sich zum Beispiel so viele Gedanken über Macht und Einfluß, wenn er doch eigentlich gar nicht bereit war, in dieser Beziehung etwas zu unternehmen? Schließlich bekam er ein anständiges Gehalt. Es wäre sogar ausgesprochen gut gewesen, hätte Eva nicht so viel für die Erziehung der Vierlinge ausgegeben – er hatte objektiv betrachtet keinen Grund zur Klage. Objektiv betrachtet. Aber was hieß das schon? Was zählte, war doch, wie man sich fühlte. Und in dieser Beziehung befand sich Henry auf einem Tiefpunkt – selbst an Tagen, an denen ihm Miss Hare das Gesicht nicht plattgedrückt hatte.
    Peter Braintree war das wandelnde Gegenbeispiel. Der hatte nicht im mindesten das Gefühl von Vergeblichkeit oder mangelnder Macht. Er hatte sogar eine Beförderung abgelehnt, weil das bedeutet hätte, den Unterricht aufzugeben und statt dessen Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Nein, der war vollauf damit zufrieden, seine Stunden über englische Literatur abzuhalten, dann nach Hause zu Betty und den Kindern zu gehen und seine Abende damit zu verbringen, die Aufsätze seiner Schüler zu korrigieren und anschließend Eisenbahn zu spielen oder Modellflugzeuge zu bauen. Und an den Wochenenden zog er los, um sich ein Fußballspiel anzuschauen oder Kricket zu spielen. Und während der Ferien war es dasselbe. Die Braintrees fuhren immer zum Zelten und Wandern und kamen fröhlich wieder zurück, ohne daß sich irgendwelche Familienkräche oder Katastrophen ereignet hätten, die anscheinend unvermeidbarer Bestandteil der Wiltschen Familienausflüge waren. In gewisser Weise beneidete Wilt seinen Freund, wenngleich er zugeben mußte, daß dabei auch etwas Verachtung mitschwang, die, wie er sehr wohl wußte, völlig ungerechtfertigt war. In einer modernen Welt genügte es nicht, einfach nur zufrieden zu sein und zu hoffen, daß sich am Ende alles zum Besten entwickeln würde. Nach Wilts Erfahrung wendete sich alles zum Schlimmsten, und das war in diesem Fall Miss Hare. Wenn er andererseits wirklich einmal versuchte, etwas zu tun, dann war das Ergebnis katastrophal. Einen Mittelweg schien es nicht zu geben.
    Er schlug sich noch immer mit diesem Problem herum, als er die Bilton Street überquerte und in die Hillbrow Avenue einbog. Auch hier ließen alle Anzeichen darauf schließen, daß fast alle mit ihrem Los zufrieden waren. Die Kirschbäume blühten, und der Bürgersteig war mit rosa und weißen Blütenblättern wie mit Konfetti übersät. Wilt musterte die einzelnen Vorgärten. Die meisten waren mit Goldlack bepflanzt und sehr gepflegt, einige allerdings – wo vorwiegend Akademiker wohnten – verwildert und von Unkraut überwuchert. An der Ecke Pritchard Street werkelte Mr. Sands zwischen seinen Erikas und Azaleen herum und bewies damit einer desinteressierten Welt, daß ein in Ruhestand lebender Bankmanager durchaus Befriedigung daraus ziehen konnte, Pflanzen, die eigentlich sauren Boden bevorzugen, auch auf eher alkalischem Untergrund gedeihen zu sehen. Mr. Sands hatte Wilt irgendwann die damit verbundenen Schwierigkeiten erklärt und ihm die Notwendigkeit, die ganze oberste Erdschicht durch Torf zu ersetzen, um den pH-Wert zu senken, auseinandergesetzt. Da Wilt keine Ahnung hatte, was pH bedeutete, begriff er auch nicht, wovon Mr. Sands sprach; abgesehen davon interessierte er sich ohnehin mehr für Sands Charakter und das Geheimnis seiner Zufriedenheit. Vierzig Jahre hatte dieser Mann damit verbracht, fasziniert, wie man annehmen darf, die Bewegung von Geld von einem Konto auf ein anderes und die Schwankungen der Zinssätze zu verfolgen und Darlehen und Überziehungskredite zu gewähren, und jetzt schien er über nichts anderes mehr reden zu wollen als über die Bedürfnisse seiner Kamelien und kleinen Koniferen. Dieser Wandel war Wilt ebenso unbegreiflich wie der Charakter von Mrs. Cranley, die einst eine so spektakuläre Rolle bei einem Prozeß gespielt hatte, in dem es um ein Bordell in Mayfair gegangen war, nun aber im Kirchenchor von St. Stephens sang und Kindergeschichten schrieb, die in ihrer erbärmlichen Naivität und Sentimentalität einfach abstoßend waren. Das alles überstieg Wilts Fassungsvermögen. Seine Beobachtungen ließen nur einen Schluß zu: Menschen konnten ihr Leben von

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