Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hera Lind

Hera Lind

Titel: Hera Lind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Männer sind wie Schuhe
Vom Netzwerk:
Stellen, klebte und übermalte und vermied es, auf die Flötenstimme zu schauen. Vielleicht konnte ich die Flöte ganz streichen. Trotzdem dachte ich dabei jede Sekunde an Christian. Wo war er, wie ging es ihm, was machte er, wovon lebte er? Hatte er versucht, zu seiner Frau zurückzukehren? Vielleicht saß er längst wieder in der schönen Villa mit den Bremer Stadtmusikanten. Ich sah ihn in seinem Wohnzimmer am Flügel stehen und üben. Er spielte den Vogel aus »Peter und der Wolf«. Er konnte fliegen. Ich konnte es nicht.
    In der Nacht zuvor hatte ich von ihm und seiner Familie geträumt: Sie wohnten in einer wunderschönen Straße mit prächtigen Erkerhäusern auf großen Grundstücken. Nicht in einem spießigen Reihenhaus wie wir. Alle Gärten waren kahl und schneebedeckt, nur einer blühte in den herrlichsten Farben. Darin stand eine Frau mit wallenden langen blonden Haaren. Sie schien zu schweben wie eine Fee und schüttelte immer mehr duftende Blumen aus ihrem Seidennachthemd. Ich versuchte, auf das Haus zuzugehen, wollte nur mal schauen, nur mal Hallo sagen und mich davon überzeugen, dass es Christian gut ging. Aber meine Beine waren bleischwer. Es ging so steil bergauf! Es war so eisglatt! Immer wieder rutschte ich aus, nicht zuletzt, weil ich peinlicherweise immer noch meine Filzpantoffeln anhatte, in denen ich im wahrsten Sinne des Wortes kalte Füße bekam. Ich fühlte mich dick und plump, und meine roten Haare standen mir vom Kopf ab, als wären sie aus Draht. Sie verfingen sich in den kahlen Ästen und ließen mich nicht vom Fleck kommen. Deshalb sah ich das Paradies, in dem Christian wohnte, nur aus der Ferne. Auf einmal spürte ich, dass ich seine Ruhe und Schönheit nicht stören durfte. Ich wollte umkehren, aber auch das ging nicht mehr. Die Straße fiel viel zu steil ab und war eisglatt! Plötzlich hörte ich die Kinder rufen: Mami, dein Kopf brennt! Ich riss mir die Haare aus, die nun alle in Flammen standen, und warf sie in einen Vorgarten, der plötzlich aussah wie unserer im Borkenkäferweg. Doch dann brannte der ganze Garten: Der Sandkasten und die Schaukel – ja sogar Leffers, der Hund meiner Schwiegereltern, brannte lichterloh. Ein fürchterlicher Albtraum, aus dem ich schweißgebadet erwachte.
    Ich war ein psychisches Wrack, reif fürs Müttergenesungswerk. Nach zwei oder drei Tagen völliger Apathie kamen die Tränen. Ich konnte sie nicht mehr stoppen, sie strömten mir ohne Unterlass über die Wangen. War das jetzt Selbstmit leid oder was? Ich hasste Selbstmitleid, verachtete es! Worum weinte ich eigentlich? Um Christian? Den ich kaum kannte? Den ich mir irgendwie zurechtträumte wie ein verknallter Teenager? Um ein verpfuschtes Leben? Ich hatte doch alles! Ich hatte drei wundervolle Kinder, die sich im Arbeitszimmer abwechselnd an mich schmiegten und mir tröstende Worte sagten. »Mama, alles wird gut, wir haben dich lieb!« Jürgen lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen und verbuchte meine Heularien unter Midlife-Crisis. »Mama fühlt sich alt und hässlich«, sagte er.
    »Du bist nicht alt und hässlich! Du bist wunderschön!«, protestierte Paulchen.
    »Ja, sogar wenn du weinst! Dann siehst du aus wie eine Rose im Regen!«
    Solch wunderschöne Worte sagten die Zwillinge, und das brachte mich erst recht zum Weinen. Christian hatte tatsächlich mit einem riesigen Strauß roter Rosen hier bei mir auf der Matte gestanden. Auf unserer Fußmatte mit der Aufschrift: »Tritt ein, bring Glück herein!«
    Tja. Das hatte er auch versucht, doch dann hatte Jürgen sein Veto eingelegt. Inzwischen waren Christians Rosen längst verwelkt und ließen die Köpfe hängen. Genau wie ich. Ich weinte und weinte.
    »Mama, was ist denn?«, fragte Paulchen ganz erschrocken. »Heulst du, weil du heute im Tischtennis gegen mich verloren hast?«
    »Ja, genau«, schluchzte ich – so lange, bis ich das letzte Taschentuch der Familiengroßpackung verbraucht hatte.
    »Mama! Ist doch nicht so schlimm! Man muss auch mal verlieren können!« Paulchen streichelte hilflos meinen Arm. »Beim nächsten Mal gewinnst du wieder.«
    Hatte er gesagt: »Beim nächsten MANN gewinnst du wieder«? Nein. Quatsch.
    »Ja. Man muss auch mal verlieren können«, wiederholte ich und starrte an die Zimmerdecke. Ich wollte mich gerade zusammenreißen und das Abendessen machen, als die Tür aufging und meine Mutter im Zimmer stand. Jürgen hatte sich keinen anderen Rat mehr gewusst, als sie herzubestellen.
    »Kinder, alle mal

Weitere Kostenlose Bücher