Hera Lind
seine Familie. Zugegebenermaßen ziemlich ungeschickt.« Sie schob mit dem Fuß die Tür zu und hob ihre Stimme. »Aber du darfst nicht im ENTFERNTESTEN darüber nachdenken, ihn zu verlassen. Was sollen denn da die Leute sagen?«
Ich schwieg betroffen. Die Leute. Tja. Das war auch noch so ein Problem.
»Stell dir mal vor, dein Vater und ich könnten samstags nicht mehr auf den Markt gehen, ohne dass die Leute auf uns zeigen und tuscheln!« Sie stemmte erzürnt die Hände in die Hüften. »Hast du DARÜBER schon mal nachgedacht, oder denkst du immer nur an dich?«
Das waren schwerwiegende Argumente. Zugegeben, ich hatte noch nicht darüber nachgedacht.
»Und außerdem geht es Oma Lenchen ganz schlecht. Sie liegt im Krankenhaus auf der Intensivstation. Du willst doch nicht allen Ernstes daran schuld sein, wenn sie stirbt?«
Erschrocken zuckte ich zusammen. »Um Gottes willen, nein! Steht es wirklich so schlimm um sie?« Ich weinte schon wieder. Das arme alte Lenchen! »Das wollte ich nicht«, stammelte ich. »Das tut mir alles unendlich leid!«
Ich fühlte mich verantwortlich für das Elend, das ich über unsere Familie gebracht hatte. Ich versprach meiner Mutter, mich augenblicklich zusammenzureißen und für Jürgen da zu sein, der im Begriff war, seine geliebte Mutter zu verlieren. Noch am selben Abend besuchte ich mit Jürgen Oma Lenchen auf der Intensivstation. Die Fahrt dorthin verlief schweigend. Nur ab und zu tauchte eines unserer Plakate im Autoscheinwerferlicht auf: »Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft«. Jürgen versuchte meine Hand zu nehmen, aber ich entzog sie ihm. Als Jürgen nicht aufgab, setzte ich mich irgendwann auf meine Hände. Ich konnte seine Berührungen einfach nicht ertragen. Tränenblind und schuldbewusst stand ich kurz darauf an Oma Lenchens Bett und hielt ihre altersfleckigen Hände, mit denen sie geistesabwesend imaginäre Wäsche faltete. Sie erkannte mich nicht mehr.
ANITA
Ralf Steiner tobte vor Wut. Die Kobaliks hatten es ihm erzählt. Sie mussten Christians nächtlichen Besuch vom Fenster aus beobachtet haben.
»Sie halten sich nicht an meine Vorgaben!«, brüllte mich der Anwalt zornig an. »Ich hatte absolutes Hausverbot über Ihren Ex verhängt! Ja, wie blöd sind Sie denn, dass Sie den einfach so wieder reinlassen!« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
Dann wollte er wissen, was Christian noch von mir gewollt habe.
»Nichts, er wollte nur reden.«
»Hat er Wertsachen mitgenommen?« Ralf Steiner ging alarmiert durchs Haus und fotografierte alle Möbel, Bilder, Teppiche, Elch- und Bärenköpfe, um sie notfalls bei Gericht als Beweismittel vorzulegen.
Hätte Christian diese grässlichen Dinge doch mitgenommen! Als ich Ralf Steiner erzählte, dass er es doch lediglich nur noch mal mit mir versuchen wollte, war es um seine guten Manieren vollständig geschehen. Er schlug mit der Faust auf den Glastisch, dass die künstlichen Weintrauben der Kobaliks aus ihrem Kelch flogen.
»Sie glauben doch nicht, dass ich mir das gefallen lasse! Die Scheidung LÄUFT!«, brüllte er mich an. »Sie lassen den Kerl keinen Millimeter mehr auf das Grundstück, geschweige denn ins Haus. Es wird überhaupt nicht mehr über den Fortbestand der Ehe diskutiert!«
»Ja, ja«, stammelte ich eingeschüchtert. Meine Güte, noch nie hatte ich einen Mann so schreien hören. Christian hatte nie die Stimme gegen mich erhoben und erst recht nicht mit der Faust auf den Tisch gehauen.
»Der Mann schuldet mir inzwischen über fünfzigtausend Euro!«, schrie Ralf Steiner. »Was denken Sie denn, was meine Extra-Arbeitsstunden über Silvester und meine Dringlichkeitsanträge bei Gericht gekostet haben? Ich bin über vierhundert Kilometer gefahren, damit Sie das neue Jahr als freie Frau beginnen können! Ich bin in Vorleistung gegangen. Weil die Kobaliks sich so für Sie eingesetzt haben!«
»Ja, danke, ich weiß das auch sehr zu schätzen …« Oh Gott, fühlte ich mich klein. Ich wollte nicht in Ralf Steiners Schuld stehen! Und in Kobaliks schon gar nicht!
»Offensichtlich NICHT!«, fiel der vor Zorn Rasende mir ins Wort. »Wenn Sie hier hinter meinem Rücken gegen mich arbeiten, wird Sie das teuer zu stehen kommen! Wie stehe ich denn jetzt da vor Gericht! Ich verliere ja mein Gesicht!«
»Nein, wirklich, das war nicht meine Absicht …« Ich weinte fast. Jetzt hatte ich den Mann in seiner Berufsehre gekränkt. Daran hatte ich nicht gedacht, als ich Christian hereinschlüpfen
Weitere Kostenlose Bücher