Hera Lind
Abschiedsszene lief immer wieder wie ein Kurzfilm vor meinem inneren Auge ab: Jürgen hatte befremdet zur Kenntnis genommen, dass ich zu einem Selbstfindungsseminar nach Neuendettelsau in Mittelfranken fahren würde.
»Du willst mich mit meiner Trauer um meine Mutter tatsächlich allein lassen?«, hatte er fassungslos gefragt.
Ich hatte ihn um Verständnis gebeten: »Bitte, Jürgen. Nur zwei, drei Tage.« Und mit einem Seitenblick auf meine Mutter: »Ich halte es hier einfach nicht mehr aus!«
Zu meiner Überraschung hatte sich Jürgen erst ratlos am Arm gekratzt und dann erstaunlich großmütig gesagt: »Bitte. Du bist ein freier Mensch.«
»Danke, ich weiß das sehr zu schätzen. Nur bis sich die Wogen hier wieder ein wenig geglättet haben.«
»Vom Weglaufen glättet sich gar nichts. Aber wer nicht bügeln kann, glaubt so was natürlich … Fahr du nur weiter auf deinem Egotrip!«, keifte meine Mutter dazwischen.
»Na ja, bevor sie wieder tagelang in ihrem Arbeitszimmer sitzt und heult …« Jürgen war verblüffend einsichtig. »Fahr du mal zu deinem Seminar und geh in dich. Und vergiss nicht sicherzustellen, dass du es von der Steuer absetzen kannst!«
Das hatte ich ihm natürlich bereitwillig versprochen.
»Allerdings kann ich mich in deiner Abwesenheit nicht um die Kinder kümmern.«
»Nein. Wo denkst du hin!«
»ICH auch nicht!« Meine Mutter hatte sich bei Jürgen eingehängt: »Ich werde nämlich Walters Einzug überwachen.«
Jetzt, wo Lenchen tot war, würde mein Schwiegervater zu uns übersiedeln, mitsamt Leffers und Unmengen von altem Plunder, der sich bereits in meinem Arbeitszimmer türmte. Ein Grund mehr, Sophies spontanes Angebot, bestehend aus Kinderbetreuung, Wolfgangsee-Ferienhaus und Mercedes mit Navigationssystem, anzunehmen und die Flucht nach vorn anzutreten.
»Ich habe nichts zu verlieren!«, murmelte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Wenn möglich, bitte wenden.« Die Navi-Dame ließ nicht locker.
»Ach, wissen Sie was? Ich kann auch weiterfahren.«
»Wenn möglich, fahren Sie hundertachtundneunzig Kilometer geradeaus und halten sich dann RECHTS.«
»Ja, danke, wird gemacht.«
In meinem Kopf ging es zu wie in einem Ameisenhaufen.
Umkehren.
Weiterfahren.
Unterordnen.
Rausfinden, was das Leben noch so für mich bereithält.
Zum Lachen in den Keller gehen.
Mit Christian schallend lachen.
Frühstück im Borkenkäferweg.
Frühstück am offenen Kamin.
Spaziergang mit Jürgen in den Schrebergärten.
Spaziergang mit Christian am Wolfgangsee.
Romantischer Abend mit Christian.
Ro… ähm … mit Jürgen.
Kurz vor der Ausfahrt Mondsee meldete sich die Dame wieder: »Halten Sie sich RECHTS.«
Ich schluckte trocken. Draußen war es inzwischen stockdunkel. Den ganzen Tag hatte ich nun in diesem Auto gesessen und fühlte mich völlig eingerostet. Wie musste Christian sich gefühlt haben, als er zu mir aufgebrochen war? War er genauso aufgeregt gewesen? So planlos und verzweifelt? Nein. Er hatte, ganz Herr der Lage, noch rote Rosen besorgt. Im dunklen Anzug den perfekten Auftritt hingelegt. Einen Antrittsbesuch alter Schule. Lässig und souverän. Andererseits hatte er eine persönliche Einladung von Jürgen gehabt.
Christians Frau Anita dagegen hatte mir gegenüber keine Einladung ausgesprochen. Im Gegenteil. Die wusste genau, was sie wollte, und hatte sich einen scharfen Anwalt genommen. Für die Scheidungskosten sollte ich aufkommen, am besten noch für ihren Unterhalt. So nach dem Motto: Ehemann gegen Leibrente. So was muss einem erst mal einfallen! Seinen Alten bei eBay verticken wie Schuhe … Dem war ich nicht gewachsen. Bestimmt würde ich als Verliererin aus diesem Rennen hervorgehen.
Fürs Erste konnte ich nur hoffen, DASS Christian überhaupt in der Hütte war! Dass er ALLEIN in der Hütte war! Vielleicht söhnte er sich dort genau in diesem Moment mit seiner blonden, Blüten streuenden Anita aus. Oder eine Abordnung der Wiener Philharmoniker leistete ihm Gesellschaft! Vielleicht übten sie die launische Forelle oder ein anderes thematisch passendes Streichquartett! Sie würden ihre Brillen auf die Stirn schieben, ihre Geigen und Bratschen weglegen und mich irritiert anstarren: Was wollen Sie denn hier, so mitten in der Nacht? Der Mann gehört Ihnen nicht! Machen Sie, dass Sie wegkommen! Oder Christian hatte sich ein Dorfdirndl angelacht? Eine dralle Bauerntochter aus der Nachbarschaft, damit sie ihn auf andere Gedanken brachte? Doch die Navi-Dame blieb
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