Hera Lind
setzen. Ich wusste, dass ich nicht frei war. Und nie sein würde.
Nach einem sehr schweigsamen Frühstück mit Christian machten wir uns auf nach Salzburg. Ich überließ Christian das Fahren, während ich noch einmal Sophie anrief und mit allen Kindern sprach. Sie versicherten mir, dass alles in Ordnung sei. Und Sophies Stimme hörte sich erholt und ehrlich an, als sie mich aufforderte, noch zu bleiben und es zu genießen.
Ich atmete tief durch und genoss den Anblick der Festung, die majestätisch im Nebel über der Stadt thronte. Was für ein Monument! Wie viele Sorgen, Nöte und Intrigen sie wohl schon gesehen hatte!
Christian parkte Sophies Mercedes in der Felsengarage des Festspielhauses. Feuchtkalte Luft schlug uns entgegen, als wir aus dem Auto stiegen. Fröstelnd klappte ich den Mantelkragen hoch. »Wo gehen wir hin?« Ich kam mir vor wie ein scheues Tier, das mal kurz aus seiner Höhle kommt, um neugierig etwas Freiheitsluft zu schnuppern. Aber bei den geringsten Schwierigkeiten würde es blitzschnell wieder in seiner Höhle verschwinden. Christian war da ganz anders: Er schaute nach vorn. Er glaubte wirklich an uns. An eine gemeinsame Zukunft. Er meinte es ernst.
Als er mein Zögern bemerkte, sagte er: »Komm, mein Herz. Zerbrich dir nicht dauernd den Kopf. Jetzt bist du hier. Genießen wir den Augenblick!«
Christian zeigte mir das Festspielhaus, in dem er schon oft mit den Wiener Philharmonikern gastiert hatte, und den Residenzplatz mit dem Dom. Wir tranken eine Melange im Café Tomaselli, wo wir dicht aneinandergeschmiegt in einer dunklen Ecke saßen und das Für und Wider einer gemeinsamen Zukunft besprachen.
Für Christian war alles klar. »Melange! Du holst die Kinder, und wir gründen eine Patchworkfamilie.«
»Ach, Christian«, seufzte ich traurig. »Wenn das so einfach wäre! Und was ist mit deinen Töchtern?«
»Meine Töchter werden zurzeit einseitig beeinflusst, aber ich vertraue auf ihre Intelligenz und ihr Vermögen, sich in beide Elternteile hineinzuversetzen. Du wirst sie lieben. Sie sind großartig!«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Diese Modeltöchter würden auf mich spucken!
Doch Christian ließ sich nicht bremsen. »Auch Anita ist im Grunde ein herzensguter Mensch. Sie ist nur so leicht beeinflussbar …«
»Dasselbe sagt Jürgen von mir!«, unterbrach ich ihn lakonisch. Wir mussten beide lachen.
Ich starrte verschämt in meine Kaffeetasse. Die ganze Zeit über fühlte ich mich beobachtet, aber wahrscheinlich war das nur mal wieder mein schlechtes Gewissen.
Nach einem ausführlichen Stadtbummel und dem Besuch von Mozarts Geburtshaus spazierten wir über die Staatsbrücke und schlugen den Weg zum Kapuzinerberg ein. Eisiger Wind schob dunkle Wolken vor sich her. Steil wand sich der Pfad hinauf, gesäumt von reich bebilderten Kreuzwegstationen. Voll die krasse Folterung!, hätte Paulchen begeistert gesagt. Ich mochte gar nicht hinschauen. Genau so würde ich in der Hölle gefoltert werden. Keuchend stiegen wir die mehreren Hundert Stufen hoch und kamen an einem abweisend wirkenden Kloster vorbei, in dessen Kirche ich mich gar nicht hineintraute.
Meine ursprüngliche Hoffnung, Christian und ich würden womöglich gar nicht zusammenpassen, verlor sich auf diesem Spaziergang endgültig. Selbst wenn ich mit diesem Mann auf dem Mond nach einem McDonald’s gesucht oder auf dem Mars Golf gespielt hätte – es wäre mir nicht annähernd so sinnlos vorgekommen, wie mit Jürgen durch die Heilewelter Schrebergärten zu spazieren. Christian wärmte meine eiskalte Hand, indem er sie in seine Manteltasche steckte. Instinktiv suchten meine Finger nach einem schwarzen Filzstift. Aber es war nur ein weicher Lederhandschuh zu spüren. Trotzdem verließ mich mein schlechtes Gewissen für keine Sekunde. Als der einsetzende Eisregen auf mein Gesicht prasselte, fühlte er sich an wie tausend verdiente Ohrfeigen.
ANITA
»Hallo? Ist da jemand?«
Obwohl Grazia zu Benni gegangen war, glaubte ich, seltsame Geräusche aus ihrem Zimmer zu hören. Hatte sie den Fernseher angelassen? Gloria war mit ihren Freundinnen im Reitstall, sodass ich eigentlich allein im Haus sein müsste. Vorsichtig tastete ich mich im Halbdunkel durch den Flur. Unterwegs hob ich zwei achtlos hingeworfene Wäschestücke auf und schüttelte den Kopf über die Unordentlichkeit meiner Mädchen. Ein BH baumelte am Treppengeländer, und ich nahm ihn auch noch mit, um ihn vor die Waschmaschine zu legen. Aber da war doch wieder
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