Hera Lind
knapp.
»Ihr habt ja schon den Baum aufgestellt!«
»Das war der Jarek. Du warst ja nicht da!« Glorias Stimme klang vorwurfsvoll. Sie angelte sich das Nutellaglas aus dem Regal und setzte sich rittlings auf einen Barhocker. Wie ein Kätzchen leckte sie sich morgenmuffelig die Nougatcreme vom Finger.
»Papa, wann gehst du wieder?« Grazia zerteilte eine Grapefruit und schob mir eine Hälfte hin. Dabei warf sie ihre langen blonden Haare über die nackte Schulter, sodass ihr frischer Knutschfleck am Hals gut zu sehen war. Sollte das eine Provokation sein? Ich warf ihr einen mahnenden Blick zu.
»Warum?« Christian legte die Stirn in Falten. »Wollt ihr mich schon wieder loswerden?«
»Nee, ich meine ja bloß, wegen Benni. Wenn du weg bist, kann ich mit ihm Bescherung feiern.«
»Ist wohl nicht großartig was mit Weihnachten?« Christian klang enttäuscht. »Ich bin die ganze Nacht durchgefahren, um wenigstens den Nachmittag des Vierundzwanzigsten mit euch verbringen zu können!«
»Hättste dir sparen können«, nuschelte Gloria mit nutellaverschmiertem Mund. »Wir haben alle noch was vor. Ich muss noch zur Weihnachtsfeier in den Reitstall. Grazia will bei Benni im Golfclub Bescherung machen, und Mama will bestimmt wieder so ne Schnulze im Fernsehen gucken.«
»Ich habe überhaupt noch nichts vor«, sagte ich schnell. »Heute ist Heiligabend!«
»Du weißt aber, dass ich abends im Stephansdom das Weihnachtsoratorium spielen muss?«, entgegnete Christian schuldbewusst. »Komm doch mit, Anita!«
Er nahm meine Hand, doch ich zog sie ruckartig zurück. Plötzlich wurde mir schmerzlich bewusst, dass Christian wirklich viel zu selten zu Hause war! Ursula Kobalik hatte einen Stachel in meine Seele gesetzt: Er liebte mich nicht mehr! Ich war ihm nicht mehr attraktiv genug! Noch nicht mal an Weihnachten hatte er Zeit für seine Familie! Und mit ins Konzert gehen, wie ein Regenschirm in der Ecke stehen und warten, bis es vorbei ist? Nein danke! Ich hatte keine Lust auf stundenlang eiskalte Kirche! Der Stephansdom war so düster, und dieses Weihnachtsoratorium von Bach so langweilig! Ich hatte es schon tausendmal gehört. Außerdem gab es in so einem endlosen Kirchenkonzert nichts zu trinken. Viel lieber wollte ich zu Hause gemütlich im Warmen sitzen, bei einem Glas Rotwein vielleicht, fernschauen und irgendwann müde auf meine Heizdecke sinken.
»Anita! Du wusstest, dass du einen Musiker heiratest. Ich verdiene unser Geld mit diesen Konzerten!«
»Das letzte hast du einfach so umsonst gemacht«, brauste ich auf. »Du hättest einen ganzen Tag eher nach Hause kommen können.«
»Als Berufsmusiker habe ich auch eine Verpflichtung dem Nachwuchs gegenüber«, verteidigte sich Christian. »Mit Kindern ohne Gage zu spielen, ist Ehrensache. Wenn es nur eines von ihnen fürs Leben prägt, hatte das gestern einen Sinn.« Sein Gesicht nahm einen ganz eigentümlichen Ausdruck an: »Weißt du eigentlich, wie schön das gestern war?«
»Ach ja? Was soll an so einem piefigen Kleinstadtkonzert schön gewesen sein?« Mein Ton war patziger als beabsichtigt. »In einer Musikschule mit Laien?«
»Die Dirigentin war großartig!«, erklärte Christian begeistert. »Sie hat die Handlung so anschaulich erklärt, dass auch die letzte schwerhörige Oma es noch verstanden hat. Es war so rührend!« Er lächelte warm. »Ihre eigenen drei Kinder haben auch mitgespielt. Der Junge Cello und die kleinen Zwillinge Trommel und Triangel.« Er dirigierte ein paar Takte mit dem Eierlöffel und pfiff sein Vogel-Motiv. »Es waren hundert Kinder beteiligt, sogar ein behindertes Mädchen im Rollstuhl. Sie konnte sehr gut Klarinette spielen.« Nun schüttelte er lachend den Kopf: »Ihr Vater, ein größenwahnsinniger Bäckermeister, hat die arme Dirigentin und mich so genervt, dass …«
Aha! Das hörte sich ja sehr vertraut an. Nach verschworener Gemeinschaft. Eifersucht rumorte in meinen Eingeweiden.
»Der Bäckermeister wollte seine Tochter unbedingt bei den Wiener Philharmonikern unterbringen und dachte, ich könnte die Kleine bei Wetten, dass als Stargast einschleusen. Armer Trottel!«
Ich verzog das Gesicht. »Und mit solchen Dumpfbacken gibst du dich ab?«
»In einer Kleinstadt menschelt es halt.«
Christian sah mich an, als sei ihm das gerade erst aufgegangen.
»Sie waren alle so begeistert bei der Sache!«
Er schlug sein Ei auf, und ich betrachtete seine langen schlanken Finger, die mich einst so hypnotisiert hatten.
»Wisst ihr, wenn
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