Hera Lind
aber ausgerechnet an Weihnachten …«, schmollte ich noch ein bisschen nach. Wieder hörte ich die Kobalik sagen: »Muss er denn sojar an Weihnachten in die Provinz fahren? Hat er denn gar keene Sehnsucht nach seiner schönen Frau und seinen hübschen Töchtern?«
Andererseits: Hatten wir denn noch Sehnsucht nach ihm? Wir hatten uns an seine Abwesenheit dermaßen gewöhnt, dass wir seine Anwesenheit kaum noch zu schätzen wussten. Schuldbewusst schmiegte ich meine Wange in seine Hand, mit der er mir liebevoll übers Haar gestrichen hatte, und er nahm die seltene Zärtlichkeit freudig auf.
»Kinder, wenn ihr jetzt mal ein bisschen spielen geht, können die Mami und ich … ähm … unsere Weihnachtsbesprechung abhalten.« Christians Mundwinkel zuckten, als er meine Hand nahm und mit dem Ehering spielte. Dabei warf er einen verstohlenen Blick auf seine Rolex. »Eine halbe Stunde hätte ich noch.«
»Iiih!«, machte Grazia und bearbeitete ihre Pampelmuse, dass es spritzte. »Ne schnelle Nummer!«
»Bäääh! Wie widerlich!«
Mist. Aus. Verpatzt, die Szene.
»Ich sprach doch nur von den Geschenken«, tat Christian unschuldig.
»Nein, Papa, du redest von SEX«, sagte Gloria verächtlich. »Ich gehe nie wieder in dieses Bett, wenn ihr …«
»Ich müsste auch noch einige Weihnachtsvorbereitungen treffen«, sagte ich schnell.
So auf Kommando wollte ich nicht. Wie sollte ich denn da in Stimmung kommen? »Geh du ruhig flöten!« Ich stand auf und warf die Serviette auf den Teller.
»Du bist mir doch nicht böse?«
»Natürlich nicht. Schließlich verdienst du unser Geld.«
»Ach, Mami, lass ihn doch!« schnurrte Gloria. »Auch wenn Papa weg muss, machen wir es uns trotzdem schön.« Sie grinste breit.
»Wenn ich euer ganzes Schminkzeug sehe und eure Klamottenberge … Heute Nacht habe ich fast dein Bett gar nicht gefunden, vor lauter Spitzenhöschen, Spaghettiträgerhemdchen und …« Christian hob die Serviette und hielt ein Fläschchen Nagellack in die Höhe: »Wo man geht und steht, Frauenkram! Im Bad ist kaum noch Platz für mein Rasierzeug!«
»Aber es ist gut, wie es ist«, sagte Gloria zufrieden. »Papa schickt das Geld nach Hause, und wir haben hier eine prima Mädels-WG, ohne dass jemand nervt.«
»Dann geh ich jetzt flöten und versuche, euch nicht zu nerven«, sagte Christian und sah mich schulterzuckend an.
Ich wandte sofort den Blick ab, woraufhin er die Achseln zuckte, sich einen Apfel von der Anrichte nahm und hineinbiss.
LOTTA
Ich sah durch das Küchenfenster nach draußen und atmete tief durch. Bitte anschnallen! Es ging los. Heiligabend, sechzehn Uhr. Mutter Margot schleppte mit theatralischer Geste die Weihnachtsgans im Römertopf an.
»Wissen Sie, Frau Ehrenreich, unsere Lotta macht sich nicht mal an Weihnachten die Mühe, für ihre Familie zu kochen!«, entschuldigte sie mein hausfrauliches Fehlverhalten über die Hecke hinweg, wo Frau Ehrenreich noch schnell ein paar Blätter harkte.
Meine Mutter fühlte sich immer bemüßigt, sich bei anderen für mich zu entschuldigen. Dabei hatte ich sehr wohl gekocht! Heute Morgen war ich noch in den Supermarkt gerast und hatte einen Großeinkauf gemacht, mit allen drei Kindern, die mit dem Einkaufswagen Roller fuhren und ihn nichts ahnenden Kunden in die Hacken rammten. Ich hätte schon was Essbares zusammengebrutzelt, nur eben keine Gans! Wie hätte ich das auch noch bewerkstelligen sollen? Ich hatte gestern ein Konzert in der ausverkauften Stadthalle dirigiert! Wäre ich ein MANN, säße ich jetzt selbstzufrieden mit Filzpantoffeln und der Zeitung im Sessel und genösse meine wohlverdiente Ruhe. So wie Opa Dietrich.
Nachmittags hatten Jürgen und ich noch in aller Eile bei der Tankstelle an der Ecke drei Fahrräder gekauft. Erst hatte Herr Sparkassendirektor entschieden sein Veto eingelegt und mir versichert, ER würde bestimmt keine Radtouren mit ihnen machen, aber ich hatte ihm versprochen, das zu übernehmen. Sie würden sich so darüber freuen! Eine Art Mountainbike mit Wimpel für Paul und zwei rosa Fahrräder mit Stützrädern für die Zwillinge. Zum Glück war Jürgen dann noch eingefallen, dass ich die drei Fahrräder über die Musikschule von der Steuer absetzen kann. Mein Jürgen war der Meinung, dass Väter den Kontakt zu Kindern, die noch nicht lesen und schreiben können, auf ein Minimum begrenzen sollten. Bis um drei hatte er deshalb in seiner Sparkasse gesessen und war dann ganz zerstreut nach Hause gekommen.
»Wie, kein
Weitere Kostenlose Bücher