Hera Lind
schlafen! Jedenfalls nicht unter diesem ständigen Zeitdruck! Heute Morgen hatte er mir eine halbe Stunde eingeräumt! Wie in einem Stundenhotel! Bei diesem Gedanken hätte ich am liebsten hemmungslos geheult.
Christian starrte mich nur an. Dann schloss er die Augen und schüttelte den Kopf.
»Schau mich mal an, Anita.« Er wartete geduldig, bis ich mich dazu überwinden konnte. »Ich habe Dienst, wurde für die Mitternachtsmette eingeteilt wie viele meiner Kollegen auch. Du kennst sie alle, und ihre Frauen sind heute Abend auch allein. Oder aber sie gehen mit ins Konzert. Doch das willst du ja nicht.«
»Wenn du was am Laufen hast, kannst du es mir ruhig sagen.« So! Der Ball war wieder auf seiner Seite.
Sein Blick glitt amüsiert an mir herab.
»Du bist die schönste Frau, die ich mir wünschen kann!« Christian lächelte, und um seine Augen bildeten sich tausend kleine Fältchen. »Was ist denn nur in dich gefahren?« Er kam um den Küchentresen herum und küsste mich. »Ups«, sagte er erschrocken. »Wie viele Gläser Wein hattest du denn schon?«
»Was soll denn das heißen?« Ich hauchte mir verlegen in die Hand. »Ist das hier eine Alkoholkontrolle?« Eine Träne kullerte mir über die Wange, und ich wischte sie zornig weg. Ich wollte jetzt nicht vor Christian heulen, verdammt!
»Nein, ist ja schon gut.«
Christian tat so, als hätte er nichts bemerkt. Anscheinend wollte er mir Zeit geben, mich zu fangen. Er klapperte geschäftig mit den Tellern herum und schob sich eine Portion in die Mikrowelle. Dann lehnte er sich abwartend an die Arbeitsplatte und nahm einen Schluck Wein.
»Es war übrigens ein sehr stimmungsvolles Konzert. Der Stephansdom war bumsvoll. Die Predigt des Erzbischofs war allerdings zu lang. Vierzig Minuten über den Weltfrieden.«
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er unbedingt das Thema wechseln wollte.
»Sei mir nicht böse, aber das Gelaber über den Bischof interessiert mich ebenso wenig wie das über deine Landpomeranze mit dem Schülerkonzert.«
So, das hatte gesessen. Auf diese Weise hatte ich wenigstens ein wenig Würde zurückgewonnen. Der Drang zu weinen war Trotz gewichen.
»Wieso bist du so kratzbürstig?«
»Tut mir leid, Christian«, sagte ich so zerknirscht wie möglich, als ich merkte, wie er zusammengezuckt war. In meinem Kopf drehte sich schon alles. Konnten wir nicht morgen weiterreden? Oder übermorgen?
»Schon gut.«
»Also, erzähl ruhig von der Predigt«, lenkte ich ein.
»Ach lass. Es interessiert dich ja doch nicht.« Mein Mann nahm einen Schluck Wein und sah mir forschend in die Augen. »Geh ruhig ins Bett, wenn du so müde bist.« Er sah auf die Uhr. Innerlich stellte er sich bestimmt schon auf seine Christmette ein.
»Bist du mir dann auch nicht böse?« Ich liebäugelte tatsächlich mit meinem vorgewärmten Bett und dem kuscheligen Kissen.
»Ich könnte dir auch noch ein bisschen Gesellschaft leisten«, sagte Christian mit rauer Stimme. »Falls mein Bett heute frei ist?«
»Gloria kann jeden Moment zurück sein.«
Warum hatte ich einfach keine Lust? War es der Alkohol, der mich so bleiern machte? Früher hatte er mich enthemmt, erotisiert.
»Gloria könnte zur Abwechslung mal wieder in ihrem eigenen Bett schlafen.« Christian kam um den Tresen herum und strich mir die Haare aus der Stirn. »Komm, ich bring dich ins Bett!«
Seine Augen glänzten im Schein der Kerze, die er angezündet hatte. Er pustete sie aus, nahm mich bei der Hand und führte mich die Treppe hinauf. Willenlos ließ ich mich mitziehen. Früher war mir weich in den Knien, weil ich mit ihm schlafen wollte. Heute war mir weich in den Knien, weil … weil ich einfach nur schlafen wollte. Na gut, ich konnte ja DABEI schlafen. In dem Moment machte die Mikrowelle ping.
»Deine Gans ist fertig.« War das Erleichterung, die da in meiner Stimme mitschwang?
»Ich habe im Moment mehr Lust auf etwas anderes«, murmelte Christian und sah mich forschend an. »Alles in Ordnung?«
Nein! Ich hatte keine Lust! Ich wollte schlafen! Wie konnte ich ihm das nur klarmachen? Wenn man keine Lust auf Sex hat, tut es auch ein kleiner Streit.
»Aber ich nicht! Ich will nicht zur Verfügung stehen, nur weil der hohe Herr mal für eine Stunde zu erscheinen geruht«, presste ich trotzig hervor. Das war ungerecht, und das wusste ich auch. Kaum war es ausgesprochen, bereute ich es auch schon.
Christians atmete hörbar aus. »Okay.« Krampfhaft versuchte er, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu
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