Hera Lind
lassen. »Dann … Schaffst du es allein ins Bett?«
»Natürlich! Tu doch nicht so, als wäre ich total besoffen!« Ich stolperte weiter die Treppe hinauf und sah mich noch einmal nach ihm um. »Ich bin einfach nur müde. Ich habe den ganzen Abend allein rumgesessen und bin jetzt einfach nicht in Stimmung.« Halt, was tat ich denn da! Ich liebte ihn doch! Trotzdem fand ich nicht die Kraft, kehrtzumachen. Morgen!, dachte ich. Verschieben wir es doch auf morgen.
»Verstehe.« Er sah auf seine Uhr. »Ich mach dann noch einen Abendspaziergang.«
Mit diesen Worten griff er nach seinem Mantel und knallte die Haustür hinter sich zu.
LOTTA
Wann hatten wir das letzte Mal einen Abendspaziergang gemacht? Wahrscheinlich vor der Geburt der Kinder. Nein, danach auch noch. Ich erinnerte mich vage, dass ich mich mit schwangerem Bauch am Arm von Jürgen durch die Schrebergärten geschoben hatte. Er war fast geplatzt vor Stolz, und ich vor Schwangersein. Besonders bei den Zwillingen. Später waren wir jeder mit einem Kinderwagen durch die Schrebergärten gezogen. Solange die Kleinen noch schliefen. In trauter Zweisamkeit, plaudernd, planend. Doch dann kam die mühsame Zeit der Dreirädchen, Stöckchen, Steinchen, Pfützen, Murmeln und Bällchen. Spazierenstehen mit Trotzanfällen. Die Kinder stritten, fielen hin, machten sich schmut zig, weinten, wollten Aufmerksamkeit, ließen kein zusammen hängendes Gespräch mehr zu, und Jürgen legte immer öfter entschieden sein Veto ein. Spätestens da war ich nur noch allein mit den Kindern unterwegs. Für Jürgen war das zu mühsam, zu unproduktiv, zu langweilig, zu alltäglich geworden. Er hatte wahrlich Besseres zu tun.
»Ja glaubst du denn, ich als Sparkassenleiter habe Zeit, mit den Kindern Murmeln durch den Matsch zu rollen, wenn ich Millionen bewegen kann? Dagegen verwahre ich mich ganz entschieden!«
Jürgen war ein Mann, der sich gern verwahrte, und die Kinder waren Frauensache. Obwohl ich mit meiner Musikschule genauso viel Arbeit hatte wie er mit seiner Sparkasse, war das selbstverständlich mein Job. Und ich genoss es sogar, mit den Kindern allein unterwegs zu sein. Wenn Jürgen nicht dabei war, konnte ich viel besser auf sie eingehen, mit ihnen singen, springen, albern sein. Jürgen wollte, dass ich ihm konzentriert zuhörte. Wenn er mit mir sprach, ging es immer um Geldgeschäfte, Steuern, Bausparverträge, Kreditabzahlungen. Klar, dass Kinder bei so etwas stören. Die setzte er gern kurzerhand vor ein Video, damit sie Ruhe gaben. Oder drückte ihnen ein Elektrospielzeug in die Hand. Für mich war es der reinste Drahtseilakt: Die Kinder und er, dazwischen der metertiefe Abgrund.
Nun denn. Jetzt, am Heiligen Abend, gingen wir zum ersten Mal seit Jahren wieder spazieren. Und zwar zu zweit. Ich genoss es, auszuschreiten und die kalte klare Winterluft in meine Lungen zu pumpen. Ansonsten war es fast unheimlich still. Nur unsere Schritte waren zu hören und das Keuchen des Hundes, der an der Leine zerrte. Die Großeltern und die Kinder hatten wir mit der Bemerkung vertröstet, noch mal beim Christkind vorbeischauen zu müssen.
»Was ist denn los, Jürgen?« Besorgt hakte ich mich bei ihm ein. »Alles in Ordnung mit deinen Aktien?«
»Ich habe da soeben eine E-Mail bekommen«, begann Jürgen mit bebender Stimme. Sein Atem blieb in weißen Wolken in der Luft stehen, bevor er sich im Nebel auflöste.
»Von wem denn?«, fragte ich so beiläufig wie möglich. Nachdem Leffers in die Rabatten gekackt hatte, blieb ich stehen und sammelte seine Bescherung mithilfe eines Taschentuchs auf.
»Es war eine anonyme Mail.« Zu meinem Erstaunen blinzelte Jürgen plötzlich aufsteigende Tränen weg.
»Eine anonyme Mail?«
»Von einem Freund, der es gut mit mir meint.«
Ich warf die Köttel in den nächsten Abfalleimer. »Und? Was Weihnachtliches?« Ich dachte an so einen Kettenbrief, den man vierzigmal weiterschicken muss und den man auf keinen Fall unterbrechen darf, weil sonst ein Wunder in Pakistan nicht geschieht oder so. Ich selbst schickte solche erpresserischen Nachrichten übrigens NIE weiter. Wahrscheinlich war deshalb in Heilewelt auch noch nie ein Wunder geschehen.
»Na ja, mein Weihnachtsfest ist jedenfalls gründlich verdorben!« Jürgens Stimme schwankte bedenklich zwischen Katastrophe und Selbstmitleid. Er zog die Nase hoch.
»Es tut mir leid, dass ich nicht dazu gekommen bin, diesmal alles schön herzurichten«, verteidigte ich mich sofort. »Das Konzert gestern war
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