Hera Lind
kannten uns nicht! Es war Zufall!«
»Oh, Meisterkurs!«, höhnte Jürgen »Und? Bläst er gut?«
So kannte ich meinen Jürgen gar nicht. »Jetzt mach mal halblang!«, zischte ich entsetzt.
»Aber küssen tut er gut!«
Na ja, da konnte ich ihm schlecht widersprechen, also schwieg ich lieber. Der Gedanke an diesen Kuss ging mir nicht mehr aus dem Kopf, sosehr ich ihn auch zu verscheuchen versuchte. Er hatte mich natürlich bis in den Schlaf verfolgt, sodass meine Lippen förmlich brannten, als ich heute Morgen aufgewacht war.
»Ich mache dir einen Heiratsantrag, und zwei Stunden später küsst du einen anderen. So liegen die Dinge also!« Als ich nach seiner Hand greifen wollte, machte er sich ganz steif. »Deshalb hast du abgelehnt. Nicht weil du wegen des Konzertes nervös warst!«
Ich presste die Lippen zusammen. Selbst der Köter hörte auf zu kläffen, um die Antwort nicht zu verpassen. Er lag auf dem Rücken, hatte alle viere von sich gestreckt und lauschte. Jürgen hatte einen Tropfen an der Nase. Ich suchte nach einem Taschentuch, aber meine Tempos waren schon für die Hundeköttel draufgegangen. »Jürgen!«, sagte ich und schüttelte ihn wie einen Dreijährigen. »Sei jetzt nicht albern. Wir haben uns sehr freundschaftlich im Parkhaus verabschiedet, mehr nicht.« Hastig wandte ich mich ab, weil mich wieder so ein süßes Ziehen überrollte.
»So. Freundschaftlich.« Ich konnte seine bohrenden Blicke förmlich im Rücken spüren.
»Ja!« Ich sah ihm reumütig ins Gesicht. »Komm, Jürgen. Lass es gut sein.«
»Du willst ihn sicher wiedersehen. Dagegen lege ich entschieden mein Veto ein!«
Ein heimeliger Geruch nach Kaminfeuer kam aus einem der Häuser herübergeweht. Es roch nach Zuhause, nach Wärme und Geborgenheit. Ich wollte kein weiteres Unheil heraufbeschwören.
»Aber nein!« Beschwichtigend hob ich die Hand. »Manchmal ist man nach einem Konzert so erschöpft und erleichtert, dass man die dümmsten Sachen tut. Hättest DU mir ein Bier gebracht, hätte ich DICH umarmt! Ehrlich!«
Argwöhnisch versuchte Jürgen zu ergründen, ob die von mir gezeigte Reue wirklich aufrichtig war. Sein versteifter Rücken wurde weich. Ich glaubte so etwas wie Verständnis in seinem Blick lesen zu können. Er sah mich aus feuchten Augen an und zog die Nase hoch.
»Jürgen, bitte! Es war so eine Art Ausrutscher, nimm es einfach nicht ernst«, buhlte ich weiter um Verständnis. Meine Stimme war schon ein wenig heiser, weil ich so eindringlich auf ihn einredete. Andererseits musste ja nicht jeder in unserer Siedlung mitkriegen, worüber wir sprachen. »Ich will ihn gar nicht wiedersehen! Ehrlich!«
Plötzlich wurde mir bewusst, welche Melodie mir seit gestern durch den Kopf ging: »Ich will euch wieder sehen, und euer Herz soll sich freuen.« Das war so ziemlich die schönste Sopran-Arie, die ich kannte, aus dem Brahms-Requiem. Ich bekam Gänsehaut, riss mich aber gleich wieder zusammen.
»Jürgen. Es tut mir wirklich leid, dass du so eine bescheuerte … äh … anonyme Mail bekommen hast, aber könntest du dir bitte mal die Nase putzen? Ich habe auch nicht die geringste Ahnung, von wem die sein könnte, aber du kannst dir ganz sicher sein, dass ich Christian NICHT wiedersehen werde.«
»Christian heißt der Knabe also.« Jürgen wischte sich mit dem Mantelärmel unbeholfen über die Nase. »Bestimmt telefoniert ihr heimlich. Aber da lege ich entschieden …«
»Nein, tun wir nicht«, zischte ich empört. »Ich habe ja noch nicht mal seine Nummer.«
»Die ist ja wohl leicht rauszukriegen!« Jürgen stieß ein verächtliches Lachen aus. »Meran in Wien! Da schaut man nur mal kurz ins Internet!«
Ich blickte hastig zu Boden, weil ich mich ertappt fühlte. Ja, das war eigentlich naheliegend.
»Warum sollte ich?« Verärgert zog ich Leffers zu mir heran, der in einem Vorgarten unbedingt einen Maulwurf ausgraben wollte. »Obwohl es die Höflichkeit gebietet, mich bei ihm zu bedanken«, sagte ich plötzlich trotzig. »Er hat schließlich ohne Gage gespielt.« Ich konnte nicht verhindern, dass mit einem Mal Zorn in mir aufwallte.
»Und warum tut er das wohl? Weil er scharf auf dich ist!« Jürgen schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Und du auch auf ihn!«
Oje, oje. Ich wollte irgendetwas Unbekümmertes, Neutrales sagen, aber mir fiel nichts ein. Ich überlegte fieberhaft. Plötzlich wurde mir bewusst, dass Jürgen recht hatte. Ich hatte mich tatsächlich in Christian verknallt. Und das nicht zu
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