Hera Lind
meinem eigenen Haus! Warum durfte ich nicht endlich hinein? Warum waren meine Erziehungsberechtigten schon wieder hier? Hatte Jürgen sich Verstärkung geholt? Was sollten diese Andeutungen? Wieso hatte ich Grund zum Ausreißen? Er hatte doch nicht … Er würde doch nicht etwa meinen Eltern … Hatte er gepetzt?! Jürgen war doch ein erwachsener Mann. Mir war kalt. Und auch ein bisschen schlecht von dem Glühwein. Das Gespräch mit Sophie ging mir nicht aus dem Kopf. Musste ich mir seine Erziehungsmaßnahmen wirklich gefallen lassen? »Die Daumenschrauben anlegen«, hatte er gesagt. »Die Zügel kürzer halten.« Ich räusperte mich. »Ich würde dann jetzt gern …«
Jürgen packte mich am Arm. »Lotta. Denkst du immer noch an diesen Flötisten?«
»Ach«, sagte ich ironisch. »Ich hatte den ganzen Tag noch nicht an ihn gedacht. Aber jetzt, wo du mich darauf bringst, fällt er mir wieder ein.«
»Das ist nicht lustig.« Jürgen sah mich tadelnd an.
»Nein.« Was war denn schon lustig mit Jürgen? Seine neckischen Wortspiele à la »Blaukraut bleibt Blaukraut, und Brautkleid bleibt Brautkleid«? Wie uncool war das denn! Sophie würde lachend kontern: »Weichei bleibt Weichei, und Traummann bleibt Traummann.«
»Liebst du mich denn gar nicht ein kleines bisschen?« Diesmal hatte ich seine kalte Hand in meinem Gesicht.
»Ja, doch, natürlich.«
»Aber?«
Hach! Ging das jetzt schon wieder los! »Kein Aber!«, brauste ich unwirsch auf und drehte den Kopf weg. »Gib mir doch nur ein kleines bisschen Zeit!«
»Wozu brauchst du denn Zeit?«
»Zeit halt! Zum Nachdenken!«
»Zeit, um an IHN zu denken?«
»Lass mich doch einfach mal durchschnaufen! Bitte!« Ich schüttelte ihn ab und wollte zur Haustür gehen, aber …
»Ich BESTEHE auf einer Aussprache!«
»Also gut. Wieder mal ein Spaziergang.« Ich drehte mich um wie ein dressiertes Pferd.
»Hier und jetzt!«
»Was WILLST du denn nun?«, herrschte ich ihn an und kam mir vor wie eine der knollnasigen Keifen von Loriot. »Erst willst du was LESEN, und dann willst du FERNSEHEN, und dann willst du SPAZIEREN GEHEN, und dann willst du DOCH NICHT spazieren gehen. Was WILLST du denn nun?« Mit Grauen stellte ich fest, dass wir im Begriff waren, genau so ein Paar zu werden!
Jürgen packte mein Kinn und wollte mich zwingen, ihn anzusehen.
Ich riss seine Hand aus meinem Gesicht und stieß sie weg. »Ich hatte jetzt wochenlang Stress mit dem Konzert, dann ein unerfreuliches Weihnachten, tausend Vorwürfe, traurige Kinder – alles ist schiefgelaufen. Ich war keine Sekunde mal für mich! Deshalb bitte ich dich, mich einfach mal ein bisschen in Ruhe zu lassen! Und wenn das in meinem eigenen Haus nicht geht, dann fliehe ich eben in den Wald!«
»Aber ich LASSE dich doch dauernd in Ruhe! Du beschwerst dich doch selbst, dass ich immer nur vor dem Computer sitze!« Nun hatte er schon wieder Tränen in den Augen. »DAS ist also der Stand unserer Beziehung. So gehen wir also ins neue Jahr.«
»Lass doch das neue Jahr aus dem Spiel!«, kläffte ich zurück. »Ob altes Jahr oder neues Jahr: Du sitzt am Computer, und ich habe die Kinder und den Haushalt an der Backe. Der Einzige, der zu mir hält, ist Caspar, und der passt euch nicht, weil er schwul ist! Ich halte das alles nicht mehr aus!«
»Ach! Jetzt bin ICH schuld, dass du mit dem Flötisten im Treppenhaus herumgeknutscht hast!«
»Nein, natürlich nicht! Bitte, Jürgen, lass doch jetzt Christian aus dem Spiel!«
»ICH soll CHRISTIAN aus dem Spiel lassen? DU hättest ihn aus dem Spiel lassen sollen!« Er stieß ein trauriges Lachen aus. »Okay, wir hatten jetzt beide unser Spiel. Mit dem Unterschied, dass du dir deinen Christian immer noch nicht aus dem Kopf geschlagen hast, während mein Ausflug in die Nachbarstadt völlig unverbindlich war.«
»Der Vergleich hinkt.«
»Das ist ja das Schlimme!« Plötzlich nahm Jürgens Stimme einen ganz anderen Tonfall an. »Weißt du eigentlich, was für ein Mensch das ist, dein toller Christian?«
»Ja. Ein netter. Der gerne lacht. Und fantastisch musiziert. Mehr weiß ich von ihm nicht.« Ich stutzte. »Wie meinst du das?« Mein Jürgen führte doch schon wieder was im Schilde!
»Verklärst du ihn nicht total? Nur weil er gut küssen kann?«
»Jürgen! Ich habe dich gebeten, dieses Thema …« Unauffällig spähte ich zur Nachbarhecke hinüber, wo sich leise raschelnd braune Blätter bewegten. »Wir haben uns einmal zum Abschied geküsst«, zischte ich mit Tränen in den
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