Hera Lind
fröstelnd im Vorgarten und hörte mir die üblichen Familienstreitereien an:
»MUSS das denn sein, dass man so viel Geld in die Luft schießt!«
»Na ja, es ist ja nicht IHR Geld. WIR haben ja die Raketen gekauft. Für unsere Enkel.«
»Das sind auch UNSERE Enkel, aber wir stiften sie nicht zu so einem Unfug an! Dieser primitive Krach! Und gefährlich für die Kinder ist es auch!«
»Lenchen, geh rein, du holst dir noch den Tod!«
»Opa, bitte lass MICH die Rakete abschießen!«
»Immer darf nur der Paul, warum dürfen WIR nicht …«
»Viel zu teuer, also wenn Sie MICH fragen, ist das pädagogisch völlig verkehrt.«
»Dietrich, hast du deine Ohropax? Steck dir doch deine Ohropax rein!«
»Ich will wenigstens noch einen Nonnenfurz! Ich KANN schon mit Streichhölzern umgehen!«
»Was soll denn Frau Ehrenreich denken, wenn wir hier so rumlärmen!«
»Schaut mal, Kinder, wie schööööön! Hach, Kinder, nein, wie ISSES nur schön!«
»Das ist doch gar nichts! Wir früher bei der Marine, wir haben wirklich den Himmel brennen sehen, als der Russe kam …«
Ich sah den Himmel auch brennen. Durch tränenverschleierte Augen. Was lief denn auf einmal in meinem Leben schief? Wie hatte es nur zu einer solchen Katastrophe kommen können? Ich hatte einen winzigen Moment lang die Kontrolle über mein geordnetes Leben verloren, und jetzt hing es plötzlich am seidenen Faden! Die Menschen, die mir bisher so nahegestanden hatten, waren auf einmal keine Vertrauten mehr! Dass Jürgen diese Rakete gezündet hatte! In Wien anzurufen, bei Christians Frau! Wie es wohl Christian jetzt ging? Und seiner Frau? Ein plötzliches Frösteln erfasste mich, und ich erschauderte unter meiner Wolljacke. Hoffentlich hatten die beiden keinen Streit. Wenn sie klug war, diese schöne Frau, hatte sie Christian überhaupt nichts von dem bescheuerten Anruf gesagt. Ich hoffte es für sie beide.
Plötzlich legte Jürgen den Arm um meine Schultern. »Na, mein Superweib? Du frierst ja. Frohes Neues erst mal!«
Halbherzig drehte ich mich zu ihm herum. »Ja, Jürgen, das wünsche ich dir auch.«
»Wollen wir das neue Jahr wieder friedlich beginnen?« Jürgen blickte mich versöhnlich an. »Und das alte einfach vergessen?«
Unwillkürlich zog ich die Schultern hoch und nickte müde. Mein Magen verkrampfte sich.
»Dann ist es ja gut. Komm, gib mir einen Kuss!«
»Ich mag jetzt nicht. BITTE putz dir die Nase!« Ich reichte ihm ein Tempo.
»Wie war es denn bei deiner Freundin Sophie?«, fragte Jürgen unvermittelt. »Heute warst du gar nicht so lange bei ihr wie sonst.«
»Sie ist nicht mehr meine Freundin.« Ich wandte mich ab und wischte mir die Augen. Auf keinen Fall wollte ich jetzt hier vor meiner Familie in Tränen ausbrechen.
Teilnahmsvoll gab Jürgen mir das Taschentuch zurück. »Habt ihr Streit gehabt?«
»Ich möchte nicht darüber sprechen.«
»Mami! Hast du DAS gesehen!? Die Rakete hab ICH abgeschossen!«
»Ja, ganz toll, mein Großer!«
»Und jetzt ich, und jetzt ICH!« Die Zwillinge hüpften vor uns auf und ab. Ein anständiges Gespräch konnte so nicht in Gang kommen.
»Na, Kinderle?« Opa Walter hatte sein Pulver verschossen und nahm nun erfreut nickend zur Kenntnis, dass wir Arm in Arm dastanden und ein Bild trauter Zweisamkeit abgaben. Er klopfte mir gönnerhaft auf die Wange.
»Bring mal die Mutti rein, sie schafft die Stufen nicht allein!« Jürgen schickte seinen Vater fort und wandte sich mit tiefer Anteilnahme wieder mir zu: »Aber Sophie und du – da passt doch keine Briefmarke dazwischen! Wie kann es denn plötzlich aus sein mit eurer Freundschaft?«
Ich starrte traurig in den funkelnden Raketenhimmel. Wie es ihr wohl gerade ging? Ob sie jubelnd und strahlend wie immer mit ihrer Familie im Garten stand? Oder eine große Party gab? In der Schmalenberg-Villa? Mit geladenen Gästen, zu denen ich nun nicht mehr gehörte?
»Die Mama hat die Sophie angebrüllt, dass sie auf dem Golfplatz war«, mischte Luna sich naseweis ein.
»Und Sophie hat geschworen, dass sie dort NICHT war«, kam ihr Stella zu Hilfe.
Ein merkwürdiges Zucken huschte über Jürgens Gesicht.
»Ja, und dann hat die Mama sie angeschrien, dass man auch im Winter Golf spielen kann und dass sie ihr kein Wort mehr glaubt. Dass sie nicht mehr ihre Freundin ist. Und dann ist die Mama ins Auto gesprungen und hat sogar noch das Rosenbeet niedergemäht, beim Rückwärtsfahren. Auf dem Heimweg hat sie die ganze Zeit geheult«, berichtete Stella. »Aber
Weitere Kostenlose Bücher