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Hera Lind

Hera Lind

Titel: Hera Lind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Männer sind wie Schuhe
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… Oh, ich durfte nicht hinsehen! Jetzt fuhr die Kamera zurück, und ich sah in Christians ernstes Gesicht. Und schon war er wieder weg! Damals, im Konzert, hatte er mich ständig angesehen, als ich ihm die Einsätze gab. Hatte er mich heute Morgen um sechs angerufen? Verschwendete er überhaupt noch einen Gedanken an mich? Plötzlich spürte ich Jürgens Atem in meinem Nacken.
    »Du schaust ihn dir ja doch an!«
    Ertappt wirbelte ich zu ihm herum. Meine Beine zitterten. Hastig drückte ich die Aus-Taste, und der Bildschirm wurde schwarz.
    »Das war das Neujahrskonzert«, rechtfertigte ich mich hastig. »Ich hatte den Ton abgedreht, um dich nicht zu stören!«
    »Kind, warum hast du denn ausgemacht?« Meine Mutter kam mit Lenchen im Schlepptau aus der Küche und wies ihr energisch den Fernsehsessel zu. »Jetzt habe ich Frau Immekeppel gerade erklärt, was es mit Beethoven auf sich hat und dass er auch schon taub war, als er seine schönsten Stücke komponiert hat!«
    Oma Lenchen ließ sich mit wackeligen Beinen in den Sessel sinken: »Ist es schon vorbei?«
    »Ja, es ist schon vorbei!«, sagte Jürgen laut und deutlich und sah mich drohend an. »Bevor es überhaupt angefangen hat!«
    »Aber das STIMMT doch gar nicht!« Meine Mutter nahm mir energisch die Fernbedienung aus der Hand und machte den Fernseher wieder an. »Ein bisschen Kultur kann hier niemandem schaden!«
    Sofort waren die Wiener Philharmoniker wieder zu sehen.
    »Wie geht das denn hier laut?« Sie fummelte hilflos an dem Gerät herum, und Jürgen zeigte es ihr.
    Nun dröhnte die neunte Symphonie von Beethoven durch unser Reihenhaus: »Freude, schöner Götterfunken …«
    »Och, Kinder, IST das nicht schön!«, rief Lenchen entzückt und wackelte interessiert mit dem Kopf. »Jetzt habe ich schon so oft Neujahr gefeiert, aber noch nie die Wiener Philharmoniker gehört!«
    »Also, ich muss hier raus!« Jürgen stürmte mit hochrotem Kopf zur Tür. »Ich gehe an die frische Luft! Lotta? Kann ich dich mal alleine sprechen?«
    Oh Gott. Nicht schon wieder!
    »Dann nehmt Leffers mit!«, freute sich Opa Walter, der soeben von der Toilette zurückkam. Er klopfte mir mit seiner noch nassen Hand auf die Wange: »Und nicht vergessen: Lebensfreude ist das Wichtigste! Gell?! Wir halten hier die Stellung!« Er nahm Oma Lenchen die Fernbedienung ab und schaltete einfach um.
    Unser Neujahrsspaziergang führte uns wie immer an den Schrebergärten vorbei. Harken und Gießkannen lehnten vereinsamt an feuchten Wänden, Sträucher und Hecken dampften im Nebel vor sich hin. Es tropfte von den kahlen Bäumen, und das braune nasse Laub hatte sich mit schmutzigen Schneeresten und grellbunten Silvesterböllerresten vermischt. Kein schöner Anblick.
    Jürgen sagte: »Ich möchte mit dir über unsere Beziehung reden.«
    Oh ja, gute Idee! Nachdem wir im letzten Jahr so schön damit aufgehört hatten, konnten wir im neuen Jahr gleich wieder damit anfangen.
    Stampf, knirsch, keuch, schnief. Er hatte wieder kein Taschentuch dabei. Ich hatte meine Umgebung schon immer als trostlos und öde empfunden, aber jetzt schrien mir die farblosen Reihenhäuser mit den verrosteten Schaukeln und vermatschten Sandkästen förmlich zu: »Frohes neues Jahr, Lotta! Du wirst hier nie herauskommen! Du gehörst zu uns!«
    In mir regte sich Trotz. Wenn Jürgen jetzt wieder mit dem Flötisten anfing, würde ich wegrennen!
    Jürgen hatte meine Hand genommen und hielt sie mit eisernem Griff fest. Mir war, als würde ich abgeführt.
    »Du kommst von dem Mann einfach nicht los, was?«
    Na bitte! Da hatten wir die Platte ja schon wieder aufgelegt. Die Endlosplatte, die meine Seele folterte wie Berieselungsmusik im Supermarkt. Heute frische Beziehungsanalysen im Kühlregal! Greifen Sie zu, nehmen Sie lieber gleich drei!
    »Ich wollte mir nur das Neujahrskonzert ansehen. Ich wusste nicht, dass das verboten ist.«
    »Wolltest du nicht. Du wolltest diesen Herrn in Großaufnahme sehen.«
    »Jürgen, bitte! Hatten wir nicht gestern Abend beschlossen, dass das Thema jetzt endgültig abgehakt ist?« Ich blieb stehen und sah ihn flehentlich an.
    »Ja, das hatten wir. Und was ist das Erste, was du heute im neuen Jahr tust?«
    »Das Neujahrskonzert sehen Millionen Leute!«
    »Das meine ich jetzt gar nicht. Sondern, dass du um sechs Uhr früh nach unten schleichst, um nachzuschauen, ob dein Geliebter angerufen hat!« Mir wurde eiskalt. Er war mir nachgeschlichen!
    »Ich dachte, es ist Sophie!«, verteidigte ich mich.

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